Tanz und altbekannte Töne wecken bei demenzkranken Menschen verloren geglaubte Geister
Günter Queißer
Lesedauer: 4 Min.
Es ist schon faszinierend zu beobachten, wie demenzkranke Menschen, die oft allein gelassen und vom gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt und isoliert dumpf vor sich hindämmern müssen, in fröhlicher Gemeinschaft aufleben, für Stunden Glück und Zufriedenheit ausstrahlen. Ein Wunschtraum, möchte man meinen. Aber im Nachbarschaftsheim Mittelhof in Berlin-Zehlendorf ist er seit drei Jahren jeden dritten Montag im Monat Wirklichkeit.
Mit ihrem Alzheimer-Tanzcafe vollbrachte die Alzheimer Angehörigen-Initiative (AAI) ein wohl bundesweit einzigartiges Kunststück. Dabei wäre es überall im Lande mit wenig Aufwand machbar, sofern das nötige Engagement und Verständnis für die Besonderheiten demenzkranker Menschen vorhanden ist. Gerade daran mangelt es leider in dieser Gesellschaft, in der Defizite in der Altenpflege letztendlich immer mit der Kostenfrage abgetan werden. Und nun diese gesellige Runde im Berliner Mittelhof. Man will seinen Augen nicht trauen: Von der schlimmen Krankheit Betroffene in ausgelassener Fröhlichkeit. Wir erleben, wie mit den alten Melodien und Tanzrhythmen die Lebensgeister geweckt werden, sich die Gesichter erhellen und entspannen, die Lust aufkommt, das Tanzbein zu schwingen. Zunächst unbeholfen, weil ungewohnt, dann immer flüssiger werdend. Die nicht mehr so Mobilen fassen sich zum Schunkeln an den Händen oder klatschen. Vertraute Lieder werden mitgesungen.
An diesem Nachmittag hat sich eine Wohngemeinschaft von Demenzkranken aus dem Prenzlauer Berg einen langen Tisch reservieren lassen. Eine Mitbewohnerin im Rollstuhl hat an der Stirnseite Platz genommen. Sie feiert ihren 90. Geburtstag. Familienangehörige sind gekommen, und natürlich bringt ihr der gesamte voll besetzte Saal ein Geburtstagsständchen. Frauen im Rollstuhl fühlen sich nicht beiseite geschoben. Im Gegenteil. Ihnen gilt besondere Aufmerksamkeit. Junge Betreuerinnen und Betreuer fassen sie an den Händen, schwingen mit ihnen die Arme im Rhythmus der Lieder. Wenn dann wie gewohnt die »Polonaise Blankenese« erklingt, führt eine Rollstuhlfahrerin mit ihrem Betreuer den langen Zug durch die Räume an. Einer nach dem anderen schließt sich an, legt die Hände auf die Schultern des Vordermannes. Und immer wieder sieht man dieses Bild: Zwei, drei Paare bilden einen Kreis, fassen sich tanzend an den Händen. Das Gefühl, nicht allein gelassen, in einer Gemeinschaft aufgehoben zu sein, wird an den glücklich strahlenden Gesichtern spürbar.
Es gibt Kranke, die wochenlang nicht sprechen und hier ihre Sprache wiederfinden - zum Erstaunen ihrer pflegenden Angehörigen, die in dieser Atmosphäre ebenfalls aufleben und neue Kraft tanken. Durch die schwere Pflege rund um die Uhr werden sie schnell zum zweiten Opfer dieser Krankheit. Nun erleben sie, dass es sich lohnt, die verbliebenen Fähigkeiten ihrer kranken Angehörigen zu aktivieren und so die Lebensqualität zu beeinflussen.
Was wie ein Wunder wirkt, ist leicht erklärbar. Mit der vertrauten Musik tauchen diese Demenzkranken in frühere Lebensphasen ein. Erinnerungen an Kindheit und Jugend werden wach, längst Verschüttetes taucht auf. Musikalische Erfahrungen sind am längsten abrufbar. Musik spricht nicht den Intellekt, sondern das Gefühl an. Selbst wenn ein solcher Kranker Schwierigkeiten hat, sich sprachlich zu äußern, kann er noch vertraute Melodien oder Texte mitsummen oder singen. Die Musik fördert den Wunsch nach Bewegung, der bei Demenzkranken meist durch ruheloses Umherwandern zum Ausdruck kommt und nun nutzbar ist.
Glückliche Gesichter herrschen an diesem Tag nicht nur bei den Kranken und ihren Betreuern, auch bei den Organisatoren. Rosemarie Drenhaus-Wagner, die Vorsitzende der Alzheimer Angehörigen-Initiative, meint, in dieser frohen Runde hole sie sich jedes Mal die Kraft, die sie für ihre schwere Aufgabe braucht.
Die etwa 50 Gäste, meist Demenzkranke mit ihren Angehörigen, aber auch Bewohner aus umliegenden Pflegeheimen, kommen mit Telebus, Pkw oder öffentlichen Verkehrsmitteln. Der Eintritt kostet drei Euro. Die Musiker des Duos »Little Rock« haben ein feines Gespür für die speziellen Bedürfnisse ihrer Zuhörer, wobei Schlager aus den fünfziger Jahren zum Mitsingen die Renner sind. Die Pause wird für Einlagen genutzt, einen Schautanz etwa, ein Akkordeon-Solo, eine Gesangsdarbietung oder man singt gemeinsam Volkslieder. Zum Abschluss der Veranstaltung - das ist schon ein Ritual - bilden die Tanzenden auf der Tanzfläche noch einmal einen großen Kreis, fassen sich an den Händen und singen: »Irgendwann, irgendwann gibt es ein Wiedersehen«, und jeder weiß, irgendwann, das wird in vier Wochen hier im Mittelhof sein.
Alzheimer Angehörigen-Initiative, Tel. (030)47378995; »Mit Musik Demenzkranke begleiten. Informationen und Tipps«, Broschüre in der Praxisreihe der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, 3 Euro, kann über regionale Alzheimer-Gesellschaften bestellt werden, in Berlin: Friedrichstr. 236, 10969 Berlin, Fax: (030)259379529;
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