Von mir aus auch Bahnhofs-Performance!
Enno Markwart, Rektor der Palucca Schule Dresden, über Visionen, Mut zum Eigensinn und die sächsische Politik
Markwart: Erlernbar ist immer die handwerkliche Komponente eines Tänzers, Choreografen oder Pädagogen. Die Welt sensibel aufnehmen und künstlerisch reflektieren zu können - das ist nur bedingt erlernbar. Aber es spielt eine Rolle, welche Lehrer du gehabt hast. Ich glaube nachweisen zu können, dass in jedem Menschen mehr Fantasie steckt, als in den meisten Fällen wachgerufen wird. In der Persönlichkeit liegt die Ausgangsbasis für Kreativität. Gute Schulen sind immer aus der Kompetenz ihrer Mitarbeiter gewachsen, aus der kreativen Kraft und dem inhaltlichen Anspruch, nie aus übergestülpten Ideen. Kompetenz entsteht immer aus dem Wirken bestimmter Persönlichkeiten. In Dresden hat Palucca verstanden, Fantasie frei zu rütteln. So ist der kreative Humus entstanden, den es zu mehren gilt.
Was unterscheidet eine Kunsthochschule vom gewöhnlichen Hochschulbetrieb?
Visionäre gibt es in der Wissenschaft genau so. Vielleicht ist die Temperamentsskala unterschiedlich, die Fantasie. Wenn ich mich jetzt »nur« auf eine Tanzschule beziehe, ist es auch die Altersstruktur. Neben dem, was du als Lehre betreibst, bist du bei so jungen Menschen den ganzen Tag noch als Lehrer erzieherisch gefordert. Tanz ist insofern universell, als er den Menschen komplett erfasst. Geist, Körper und Gefühl sind nicht mehr getrennt, alles ist aktiv. Tanz meint den gesamten Körper, betont die Unverwechselbarkeit des Einzelnen, seine Individualität. Diese Einmaligkeit herauszufordern, darin liegt das Potenzial. Wir sind zugleich gesellschaftliche und individuelle Wesen. Das ist der lebenslange Widerspruch, der Zwiespalt, der jeden von uns treibt. Aus diesem Inhalt, der Suche nach einem besseren Zusammenleben, ergibt sich das kommunikative Element.
Die Studentinnen und Studenten sehen sich heute konfrontiert mit einer und integriert in eine ungeheure Breite und Vielfalt tänzerischer Entäußerung. Worauf konzentriert sich die Arbeit Ihres künstlerischen Kollegiums in Zeiten des Pluralismus?
Unserer Profil zielt handwerklich auf Vielseitigkeit, aber nicht auf Beliebigkeit. Nach der künstlerischen Seite gefragt, antworte ich mit Palucca: »Ich will gewiss keine Nachahmer erziehen.« Wir möchten ein breit gefächertes Handwerk mit heutiger Welterfahrung verbinden.
Was erwarten Sie von Ihren Studenten und Absolventen?
Das Individuelle. Improvisationsfähigkeit ist ein entscheidender Faktor für innere Überzeugung, Selbstbehauptung und künstlerische Freiheit. Es spielt keine Rolle, was mir als Rektor gefällt. In diesem Sinne ist es mir egal, ob jemand an der Oper, im Friedrichstadtpalast oder auf einer Bahnhofs-Performance tanzt. Entscheidend ist, ob er mit Professionalität und Lust arbeitet.
Das Problem der Studenten ist doch aber das Überangebot.
Es ist ganz schwer, zu sich selbst zu finden. Die Gefahr, latent an der Oberfläche zu schwimmen, ist enorm. Man kann heute scheinbar alles leicht haben. Tiefgang ist ein sehr schwer zu erwerbendes Gut. Oben schwimmst du ohne Mühe mit. Gegen den Strom schwimmen, geht nur, wenn du Tiefe hast - wo der Anker Halt finden kann. Es gibt ja eine spezielle Faszination besonders auf der Bühne und im Film: Darsteller, die sich innerlich entblößen. Dazu gehört Mut. Man ist ungeschützt, verletzlich. Innerliche Entblößung ist ein Vorgang, der spürbar alle Menschen betreffen kann. Er spricht stellvertretend das Lieben und Leiden aus. Über den Darsteller entsteht eine emotionale Solidargemeinschaft. Obwohl ich meinen Nachbarn im Theater oder Kino gar nicht kenne, spüre ich: Ich bin nicht allein in der Sache. Wegen dieses unglaublichen Erlebnisses liebt man besondere Schauspieler, Tänzer, Sänger. Der Darsteller erbringt gleichsam spielend das Opfer, damit es zwischen mir und den anderen besser funktioniert.
Neben Ihrer Arbeit als Rektor unterrichten Sie Fantasielehre, und Sie choreografieren. Welchen Rat geben Sie Ihren Studenten mit auf den Berufsweg?
Wenn sie nichts Eigenes zu sagen haben, sollen sie nicht auf die Bühne gehen.
Die Palucca Schule ist derzeit aus ihrem angestammten Haus am Dresdener Basteiplatz in ein großes Gebäude der Freimaurer Loge in der Bautzner Straße 10 umgezogen. Eine Interimslösung, denn ab Sommer 2004 beginnen die Bauarbeiten für einen großzügigen Neubau neben dem Stammhaus. Ohne Vertrauensvorschuss von Politik und Gesellschaft kann Kunst sich nicht entwickeln. Der Tanz hat es schwer in Zeiten leerer Kassen und oft fehlender Lobby. Liebt der Freistaat Sachsen den Tanz?
Die Palucca Schule ist 77 Jahre alt, hat sich in ihrem schöpferischen Potenzial gegen viele Schwierigkeiten bewährt. Wie in anderen Bereichen war auch die Umbruchsituation nach der Wende keine leichte. Die Politik hält zu uns. Da wird immer mal wieder von »Kleinod« gesprochen. Schließlich hat man sich hier in Sachsen auch für William Forsythe entschieden. Das begrüße ich sehr. Allerdings besteht die freie Szene in Dresden leider nur aus wenigen Einzelkämpfern.
Im Herbstsemester 2006 wird der erste Diplom-Studiengang Tanztherapie für professionelle Tänzer immatrikuliert. Bisher gibt es für Nichtprofis eine berufsbegleitende Weiterbildung an einer der rund 45 privaten Institute für Tanztherapie. Profi-Tänzern eröffnet sich mit diesem neuen Studiengang eine interessante Berufsperspektive ohne Altersbeschränkung. Worin liegt für Sie der Hauptgrund, diesen Studiengang gerade an der Palucca Schule neu zu etablieren?
Sie ist die einzige Hochschule für Tanz in Deutschland. Dort gehört Tanztherapie als fünfter Studiengang endlich hin. Der soziale Aspekt einer zweiten Berufschance für Tänzer spielt eine wichtige Rolle. Welchen Wert die Tanzkunst hat, kann man auch daran ablesen, wie das Erlangen eines zweiten Berufes staatlich (ohne soziale Deklassierung für die Betreffenden) unterstützt wird. Hier ist die Politik gefragt. Wir sehen mit dem zweijährigen Ergänzungsstudiengang eine potenzielle Chance, diese berufliche Lücke für Tänzerinnen und Tänzer mit Zielpunkt Arbeitsmarkt zu schließen.
Im letzen Studienjahr waren Sie mit Studenten zum Austausch in den USA, in St. Petersburg, vor kurzem in Japan, und die Tanzpädagogen sammeln derzeit wiederholt Erfahrungen im holländischen Tilburg. Wie beurteilen Sie in Zeiten der Globalisierung das Verhältnis von internationaler Vernetzung und nationaler Eigenständigkeit?
Folklore erhält man sich als Tradition, um zu wissen, woher man kommt. Das nationale Element wird sich in der Kunst doch Stück für Stück aufheben. Dadurch wird aber nie die schöpferische Potenz des Einzelnen aufgehoben. Das Schöpferische ist seiner Natur nach immer etwas Neues und an das menschliche Individuum gebunden. Keine Vernetzung kann das kreative Potential des Einzelnen ersetzen.
Tanz braucht Visionen. »Ich will nicht schön und lieblich tanzen« - das war Paluccas Motto. Welche Vision treibt Sie?
Als Tänzer und Choreograf habe ich natürlich meine Vorstellungen im Zusammenhang mit dem Werden junger Künstler. Aber ehrlich gesagt war und ist mein vorrangiges Bestreben, diese Hochschule in ihrer Struktur zu entfalten, zeitgemäße Studienformen zu entwickeln. Als ich kam, gab es lediglich den Studiengang Bühnentanz, jetzt sind es vier Studiengänge, und 2006 kommt, wie gesagt, die Tanz- und Ausdruckstherapie hinzu. Wir haben seit 2000 das Palucca Tanz Studio, und ich möchte noch eine Stiftung gründen, um es finanziell zu sichern. Bei der Länge des Studiums muss man auch über Bachelor und Master nachdenken. Und schließlich wird bald der Neubau stehen. Ich möchte meiner Nachfolgerin bzw. meinem Nachfolger eine neu strukturierte und moderne Tanzhochschule übergeben.
Interview: Karin Schmidt-Feister
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.