Werbung

Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

  • Kultur
  • Der Rechtsphilosoph HERMANN KLENNER wird 70

Unangepaßt –gestern wie heute

  • Lesedauer: 4 Min.

Foto: Robert Grahn

„Gleichheit im Reiche der Freiheit“ - diese Worte stellte er den 1983 von ihm edierten Schriften Gerrad Winstanleys voran: Hermann Kienner, der Rechtsphilosoph, der heute seinen 70. Geburtstag begeht. Dieses Motto kann getrost auch als Zielstellung seines eigenen wissenschaftlichen Werkes gelten. Denn ebenso wie bei dem Führer der äußersten Linken der englischen Revolution zielen die etwa 600 Publikationen Kienners letztlich nicht nur auf die Gleichheit (von reich und arm) vor dem Gesetz, sondern auf den Schutz ökonomisch Gleichberechtigter durch das Gesetz.

Drei Bücher aus der Feder des Jubilars sollen als Beispiel genügen: „Marxismus und Menschenrechte“ (1982), „Vom Recht der Natur zur Natur des Rechts“ (1984) und „Deutsche Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert“ (1991). Er schreibt für eine „Rechtsentwicklung von unten“ und in der Tradition einer marxistischen Rechtsphilosophie, für die Namen wie der des 1937 im Auftrage Stalins hingemordete Eugen Paschukanis stehen. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß er mit den jeweils Herrschenden in Konflikt gerät. 1958 wird in dieser Zeitung gegen ihn, seit 1956 Professor an der Humboldt-Universität, der Revisionismusvorwurf erhoben. Im Zuge der „Babels-

berger Konferenz“ im Sommer 1958 muß er sich einem Parteiverfahren und der „Bewährung in der Produktion“ unterwerfen. Konkret heißt das: zwei Jahre Bürgermeister in der Gemeinde Letschin. Inhaltlich war die „Abwicklung“ dadurch determiniert, daß Kienner und andere nach dem XX. Parteitag der KPdSU und in Überwindung eigener früherer Positionen im Recht sowohl ein Instrument als auch ein Maß der Macht sahen. Nach dem herrschenden Rechtsverständnis in der DDR aber war das Recht lediglich eine Funktion der Macht.

Im Abriß der Geschichte der Juristischen Fakultät im aktuellen Vorlesungsverzeichnis der Humboldt-Universität wer-

den jene Kontroverse und ihre Folgen verschwiegen. In der Stunde der großen Vereinfacher ist das keine Überraschung. Gehört es wohl auch zur Selbstlegitimation manch eines neuen Ordinarius, die DDR auf „Unrechtsstaat“ und MfS sowie ihre Rechtswissenschaft auf einen monolithischen Verein zur Apologie der Macht zu reduzieren. Ganz nach dem Motto: Je verwerflicher das Alte, desto redlicher folglich das Neue!

Es spricht für den langen Atem des Jubilars, daß er in die DDR-Wissenschaft zurückkehrte. Zählt er doch zu jener Generation, die die Schrecken der nazifaschistischen Vergangenheit noch bewußt erfahren hatte und sich daher für die Demokratisierung der gesellschaftlichen Alternative einsetzte. Doch 1968 bricht der Konflikt zur SED-Führung noch einmal offen aus. Die von ihm mitverfaßten „konzeptionellen Gedanken zu einem Lehrbuch Rechtstheorie Sozialismus“ werden im ZK der SED als „Verzicht auf die sozialistische Staatsmacht“ denunziert. Von nun an argumentiert Kienner, der mittlerweile am Philosophieinstitut der Akademie der Wissenschaften arbeitet und 1990 deren Runden Tisch zur Reformierung leiten sollte, verstärkt mit dem „Fuchsschwanz“. Brennende Gegenwartsprobleme werden, um sie

überhaupt zu diskutieren, historisch verfremdet. Der Preis dieser Methode war, wie er selbst schrieb, daß damit zugleich die Schärfen all der inneren Widersprüche unseres Landes sublimiert wurden. Der Wissenschaft brachte es u.a. Editionen der Texte von Kant, Hegel, Spinoza, Hobbes, Humboldt und Paschukanis.

Im Gegensatz zu vielen seiner früheren Widersacher in der DDR, deren Tinte angesichts des Scheiterns der Alternative allzu rasch vertrocknete, ist Kienner auch heute von rastloser Produktivität. So kritisiert er beispielsweise das Mißverhältnis von Rechts- und Sozialstaatlichkeit, von Grundund Menschenrechten in dieser größeren BRD. In die bürgerliche Homogenisierung des neuen Deutschland läßt er sich nicht einfügen. Möglicherweise gehen auch deshalb die Angriffe auf Kienner heute nicht vom ND, sondern von der FAZ aus.

Kienner hat aus der Analyse des Scheiterns der DDR und ihres Rechtssystems eine Grunderkenntnis für jeden Sozialisten in die BRD mit eingebracht: Es gibt keine Vergesellschaftung der Produktionsmittel ohne eine Vergesellschaftung des Staates, keine sozialen Menschenrechte ohne politische, keine realen Rechte ohne formale!

VOLKMAR SCHÖNEBURG

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.