Bohemien, Anarchist Lebenskünstler

Vor 100 Jahren geboren: Hans Jaeger

  • Tobias Anderson
  • Lesedauer: 8 Min.
Wer Oslo einmal besucht hat, wird bestätigen, dass die Metropole Norwegens sympathisch wenig von einer Großstadt an sich hat. Der Zweite Weltkrieg hat, wenn auch nicht die Bewohner, so doch die Gebäude weitestgehend verschont, und die geographische Lage bewahrt die Stadt vor zerstörerischen Naturgewalten. So fällt es gar nicht so schwer, sich bei einem Spaziergang auf der Karljohanstraße um etwa 120 Jahre zurück zu versetzen. Vergessen wir den Lärm der Autos und die Touristen in Jeans und T-Shirts, stellen wir uns vor, auf den Bürgersteigen promenierten Damen in langen Röcken und Herren mit steifen Hüten, dazwischen mischen sich die schmucken Uniformen der Kadetten und einige verwegene Trachten der Künstler und Studenten, aus denen sich die Boheme der norwegischen Hauptstadt, die noch Kristiania heißt, rekrutiert. Von weitem ertönt die Musik der Kapelle, wie um zu unterstreichen, dass die Promenade auf Karljohan ein gesellschaftliches Ereignis ist. Doch heute finden die blitzenden Instrumente nicht die gewohnte Aufmerksamkeit, und auch die jungen Damen vermissen die kühnen Blicke und kecken Pfiffe ihrer Galane. Ein anderes Thema ist Stadtgespräch, wird hitzig diskutiert, verursacht hämisches Gelächter wie betroffene Mienen: Hans Jaeger, der unbestrittene Kopf der Boheme, ist gerade zu 60 Tagen Gefängnis verurteilt worden; sein Roman »Fra Kristiania-Bohemen« muss eingestampft oder verbrannt werden. Wir schreiben den 22. September 1886. Wenn man heute in den Buchhandlungen oder Antiquariaten Oslos nach Hans Jaegers 1885 erstmals erschienenem Roman fragt, erntet man keine misstrauischen oder verschwörerischen Blicke mehr. Das Werk, das jahrzehntelang auf dem Index gestanden hat, ist seit einiger Zeit frei erhältlich und hat in den letzten Jahren mehrere Auflagen erlebt. »Kristiania-Boheme hat sich von einem Stein des Anstoßes zu einem Meilenstein der norwegischen Literatur entwickelt, doch es wäre kurzsichtig, die Bedeutung von Jaegers Roman nur im nationalen Rahmen zu sehen. Die Bildung von Boheme-Kreisen war zu jener Zeit ein europäisches Phänomen, und die - zum Teil erzwungene - Mobilität der modernen, unangepassten Künstler und Schriftsteller brachte es mit sich, dass sich der Ruf Hans Jaegers auf dem ganzen Kontinent verbreitete. Leider eilte der Ruf dem Werk weit voraus - und so galt Hans Jaeger lange als "brutaler Naturalist", als "total verdorbener Prophet", als "dämonischer Experimentator, und so mancher Selbstmord unter seinen jungen Schülern kam auf das Konto seiner wahnsinnigen Suggestivkraft", wie es Stanislaw Przybyszewski in seinen Erinnerungen formulierte. Weniger extrem fiel das Urteil derer aus, die Jaegers Roman wirklich gelesen hatten. Der Schwede Ola Hansson, der wegen seiner als unsittlich geltenden Novellensammlung Sensitiva amorosa die Heimat verlassen musste und in der Berliner Vorortboheme, dem Friedrichshagener Dichterkreis, zeitweise Zuflucht fand, würdigte 1891 "Kristiania-Boheme" als Jaegers "klassisches Werk" und fügte hinzu: "Was Jaeger anbetrifft, so meinen viele, er sei ein gebrochener Mann. Sein Buch war das kühnste Buch, das jemals im Norden geschrieben worden; die Rache der Gesellschaft war vollauf danach." Doch in einem waren sich alle einig: Hans Jaeger hatte einen "modernen" Bohemeroman geschrieben, der den antibürgerlichen Protest der jungen Künstler und Intellektuellen unverfälscht artikulierte. Gegen seine harsche Zivilisationskritik - gegen das Christentum, die Moral und den alten Rechtsbegriff - nahm en sich Henri Murgers Klassiker "Scènes de la boheme" wie eine fast märchenhafte Idylle aus. Gerechterweise muss gesagt werden, dass Hans Jaeger viele Kontroversen und Missverständnisse um sein Werk bewusst kalkuliert hatte. Im Vorwort zu Fra Kristiania-Bohemen stellt er sich keine geringere Aufgabe als "eine moderne norwegische Romanliteratur" einzuleiten und bekennt zugleich, dass sein Buch in literarischer wie sozialer Beziehung als "ein Monstrum" ausfallen musste. Stoff ist ihm, als naturalistischem, deterministischem Schriftsteller, das Leben, sein Leben, das seiner Freunde und Genossen, die gesellschaftliche Außenseiter sind wie er. Welche Lebenswege hätte er besser, gründlicher auf ihre Prägung durch das soziale Umfeld untersuchen können? So war den Lesern, Gegnern wie Anhängern, sofort klar, dass die Romanfigur Herman Eek das alter ego Hans Jaegers ist. Dieser Herman Eek begleitet den Untergang seines Freundes Jarmann (in Wirklichkeit Johan Seckmann Fleischer, 1860-1884), der zwischen Ekstase und Depressionen schwankend im Selbstmord endet. Kein Wunder, dass "Kristiania-Boheme" von den meisten nicht als Roman gelesen und auch von der Obrigkeit nicht als solcher behandelt wurde - mit verhängnisvollen Folgen für den Autor, der durch sein Werk vom Außenseiter zum Ausgestoßenen, zum Paria, wurde. Hans Henrik Jaeger wurde am 2. September 1854 in Drammen geboren; sein Vater, Polizist und später Brigadeauditeur, starb, als Hans zehn Jahre alt war. Bis 1867 besucht er die Lateinschule in Bergen, die er verlässt, um seine erste, kurze Seereise anzutreten. 1870 besteht er, noch nicht siebzehn Jahre alt, an der Navigationsschule in Bergen das Steuermannsexamen und unternimmt eine Seereise bis ins Schwarze Meer. Auf der Rückfahrt, im Frühjahr 1871, desertiert er in Swansea, durchstreift England und heuert unter falschem Namen wieder an. Im Winter 1871 lernt er an der Schifferschule in Kristiania; im Frühjahr 1872 besteht er das Examen und segelt auf einem norwegischen Schoner von England nach Amerika; von dort kehrt er als zweiter Steuermann zurück. 1874 bereitet er sich privat auf das Abitur vor, arbeitet in dem Landvermessungsbüro seines Vetters - bereits hier fällt Jaegers mathematisches Genie auf - und nimmt an einem Stenographiekurs teil. Anfang 1875 besteht er die Prüfung und wird als Parlamentsreferent bei der amtlichen "Storthingstidende" angestellt. Im Sommer besteht er das Abitur und beginnt, Philosophie zu studieren; besonders interessieren ihn die deutschen Denker Hegel, Fichte und Kant. 1878 erscheint sein erstes Werk, eine Studie über Kants "Kritik der reinen Vernunft". Die Boheme von Kristiania begann sich etwa ab dem Frühjahr 1882 zu formieren, zum einen aus Künstlern, die oft Anregungen und Erfahrungen aus Bohemekreisen und Künstlerkolonien des Kontinents mitbrachten und im Durchschnitt etwas älter waren, zum anderen aus Studenten und jungen Akademikern der Matrikel 1875 und der Folgejahre. Erste Treffpunkte waren Privatwohnungen und Studentenzimmer; mit steigenden Einkünften verlagerten sich die Feste und Diskussionsrunden in die Cafés der Innenstadt. Im Kern der Kristiania-Boheme traf man die besten, intelligentesten Köpfe des jungen Norwegen, wache, vitale Geister, die in den späteren Jahren als Künstler, Schriftsteller, Juristen, Politiker oder Journalisten von sich reden machen sollten (in Deutschland am besten bekannt ist der Maler Edvard Munch, der Jaeger 1889 genial porträtierte). Wie gefährlich sich die Kristiania-Boheme, zumindest verbal, gebärdete, verdeutlichen die "Neun Gebote der Boheme": 1. Du sollst dein Leben schreiben. 2. Du sollst die Wurzeln deiner Familie zerschneiden. 3. Man kann seine Eltern nicht schlecht genug behandeln. 4. Du sollst deinen Nächsten nie für weniger Geld als für 5 Kronen schlagen. 5. Du sollst alle Bauern wie Björnstjerne Björnson hassen und verachten. 6. Du sollst nie Zelluloidmanschetten tragen. 7. Vergiss nie, im Kristiania-Theater Skandal zu machen. 8. Du sollst nie etwas bereuen. 9. Du sollst dir das Leben nehmen. Du sollst dein Leben schreiben - 1883 begann Hans Jaeger, dieses Gebot der Boheme zu verwirklichen, im Herbst 1885 ist der Roman abgeschlossen. Sofort tauchen im Studentenverein Subskriptionslisten auf, die aber auf Anweisung des akademischen Kollegiums wieder entfernt werden. Auch in anderen norwegischen Städten sammeln Freunde Jaegers Vorbestellungen; außerdem sind Gerüchte über den Inhalt des Buches im Umlauf und erhöhen die Spannung. Am 12. November 1885 erscheint das Vorwort als Separatdruck; der Verlag distanziert sich bei der Herausgabe der kleinen Schrift ausdrücklich von dem zu erwartenden Roman. Ein moralisch entrüsteter Buchbinder gibt Teile des ersten Bandes an den Vorsitzenden des "Vereins zur Förderung der Sittlichkeit" weiter, der die Polizei informiert. Damit ist die Staatsmacht vorgewarnt, allein es fehlt die Handhabe, denn ein Werk, das noch nicht verfügbar ist, kann man nicht verbieten. Am Morgen des 11. Dezember 1885 ist es endlich soweit; "Kristiania-Boheme" erscheint im Selbstverlag. Schon gegen Mittag beginnt auf Befehl des Justizministeriums die Konfiszierung. Die gegen Hans Jaeger erhobene Anklage wegen Gotteslästerung und Verbreitung unsittlicher Schriften endet mit einem Schuldspruch. Was ihn viel härter trifft als der Freiheitsentzug ist die Ächtung durch die bürgerliche Gesellschaft. Jaeger hat zwar Philosophie studiert, sich jedoch nie immatrikulieren lassen; als er das nachholen will, wird er vom akademischen Kollegium wegen seiner Verfehlungen abgewiesen. Damit ist er vom akademischen Leben ausgeschlossen. Und er verliert sein geregeltes Einkommen - das norwegische Parlament ist nicht mehr bereit, ihn als Stenographen zu beschäftigen. Der weitere Lebensweg Hans Jaegers soll nur kurz nachgezeichnet werden. Die Veröffentlichung des ersten Bandes der Romantrilogie "Kranke Liebe" (1893), in dem er, kaum verschlüsselt, seine zum Teil perversen Obsessionen gegenüber Oda Krohg, der Frau seines Freundes Christian Krohg, schildert, empört nicht nur die bürgerliche Öffentlichkeit, sondern auch viele seiner Freunde und Anhänger. Jaeger hält sich vorübergehend in Kopenhagen und lange in Paris auf, wo er für eine amerikanische Versicherungsgesellschaft arbeitet (und, als genialer Mathematiker, auf eine Betrugsmöglichkeit hinweist, die später tatsächlich genutzt wird). Er bewegt sich in anarchistischen Kreisen, arbeitet an verschiedenen Zeitungen mit, schmiedet zum Teil verrückte Pläne und veröffentlicht 1906 sein letztes großes Werk, "Die Bibel der Anarchie", in der er das kapitalistische Wirtschaftssystem als inhuman, ja geradezu satanisch anprangert. 1908 bemüht er sich um ein Patent für eine von ihm erfundene Flugsteuerung. Im Januar 1910 erfährt er, dass er an Magenkrebs erkrankt ist. Am 8. Februar stirbt Hans Jaeger in einem eigens gemieteten Hotelzimmer an der Karljohanstraße, die ihm so lange Lieblingsplatz und Heimat war. Nach zensierten Fassungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts legt der Münchner Verlag Belleville zur Frankfurter Buchmesse 2004 erstmals eine vollständige deutsche Fassung der "Kristiania-Boheme" vor - 150 Jahre nach Hans Jaegers Geburtstag und fast 120 Jahre nach der norwegischen Erstveröffentlichung. Nun können die Leser in Deutschland endlich das Werk kennen lernen, von dem Jonas Lie schrieb: "Es ist ein entsetzliches Buch, mit dem Revolver vor der Stirn ist es geschrieben."
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