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Sekten unterwandern Frankreich

Untersuchungsbericht: Einfluß bis in Regierungskreise

  • Lesedauer: 2 Min.

Das Thema Sekten beschäftigt die Franzosen mehr als diesen pseudoreligiösen Vereinigungen recht sein kann. Seit dem kollektiven Selbstmord von 16 Adepten des „Sonnentempler“-Ordens kurz vor Weihnachten im ostfranzösischen Vercors-Massiv wird das Thema lebhaft diskutiert, wobei sich viele Opfer zu Wort gemeldet un/i über erschütternde Beispiele von Manipulation und Psychoterror berichtet haben. Immer wieder wurde dabei die Forderung vorgebracht, die Sekten strenger zu überwachen, ihnen den gemeinnützigen Status von Vereinen zu entziehen und sie als profitorientierte Unternehmen, die sie meist sind, zu besteuern.

Die Fakten eines parlamentarischen Untersuchungsberichts sind alarmierend. Danach gibt es heute in Frankreich 172 Sekten mit 160 000 Anhängern und weiteren 100 000 Sympathisanten. Das sind 60 Prozent mehr Anhänger als 1982 vom Parlament recherchiert wurde. Die größte und einflußreichste Sekte sind

nach wie vor die „Zeugen Jehovas“ mit 130 000 Anhängern, die undurchsichtigste die „Scientology“-Kirche, den größten Zuwachs gibt es bei den „New Age“-Adepten.

Dank der detaillierten Berichte des Inlandgeheimdienstes Renseignements generaux (RG) wird ein beklemmendes Bild von der Sektenlandschaft, ihrer Ausbreitung und ihrem Einfluß gezeichnet. Bemerkenswert sei, daß die Sekten ihre Zielgruppe vor allem in den bessersituierten Mittelschichten sehen und kaum an mittellosen Anhängern interessiert sind. Bei vier Sekten registrierten die RG eine „Weltuntergangs“-Ideologie und die Gefahr von Massenselbstmorden wie bei den „Sonnentemplern“ Die Kommission räumt das krasse Mißverhältnis zwischen den Gesetzesverstößen durch Sekten und ihrer juristischen Aufarbeitung ein. Offensichtlich gehen viele Betroffene davon aus, daß ein Kampf gegen die Sekten und ihre Anwälte von vornherein aussichtslos ist.

Die Untersuchungskommission wollte sich mit Rücksicht auf die Religions-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit nicht für eine restriktive Gesetzgebung gegen die Sekten oder ihr Verbot aussprechen. Statt dessen rät sie zur konsequenten Anwendung bestehender Gesetze und befindet sich damit auf einer Linie mit entsprechenden Empfehlungen des Europaparlaments von 1991 und des Europarats von 1992. Die wichtigste Schlußfolgerung der Kommission wurde wegen heftiger Meinungsverschiedenheiten nicht in den Bericht aufgenommen und gelangte nur durch Indiskretionen in die Öffentlichkeit: Einige Sekten haben politische Strukturen bis in Regierungskreise unterwandert und sich eine Lobby geschaffen, die ein strengeres Vorgehen gegen die Sekten zu verhindern weiß. Auch in der Parlamentskommission sollen sie unerkannt vertreten und - wie der halbherzige Bericht zeigt - erfolgreich gewesen sein.

RALF KLINGSIECK, Paris

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