Ehre ihrem Andenken

Die Toten der Wende und Nachwende

  • Harry Nick
  • Lesedauer: 6 Min.
Nichtachtung ist eine heimtückische Art der Verleumdung. Es ist eine anonyme, eine Art axiomatischer Verdammung, die keine Gegenwehr zulässt, weil sie gar nicht erst sichtbar angreift. Es habe, so Herr Eppelmann, fünf Bevölkerungsgruppen in der DDR gegeben, darunter Opfer, Täter, Verführte, Mitläufer, Menschen in »innerer Emigration«, nur eine Gruppe wird nicht genannt: überzeugte Sozialisten, die sich für dieses Gemeinwesen DDR abrackerten, meist, indem sie sich für ihre Mitmenschen einsetzten, in Elternbeiräten, Schiedskommissionen, betrieblichen Konfliktkommissionen, in Ehrenämtern, von denen es manche leider nicht mehr gibt.
Es wird auch einer bestimmten Art von Opfern der »Wende« öffentlich nicht gedacht, Menschen, deren seelische Kräfte für die Schmerzen nicht ausreichten, welche die »Wende«, die Wende- und Nachwendepolitik ihnen zufügten. Manche von ihnen sind späte Opfer des Kalten Krieges. In ferner Zeit, wenn der Kalte Krieg gegen die DDR verklungen sein wird, wird man auch ihnen, ist zu hoffen, Gedenktafeln setzen. Was sie uns zu sagen haben, ist aber gerade heute wichtig. Ihrer zu gedenken, sie nicht dem Vergessen auszuliefern, ein elementares menschliches, demokratisches Gebot.

Dr. Detlef Dalk
Dr. Dalk nahm sich 1992 das Leben, weil er, wie Zehntausende in Ostdeutschland, von seinem Grundstück durch westliche Alteigentümer vertrieben wurde. Er wähle einen »öffentlichen Tod«, um gegen das den Ostdeutschen zugefügte Unrecht zu protestieren und zur Umkehr zu mahnen. In einem Offenen Brief an Bundeskanzler Helmut Kohl schrieb er: »Ich bin so weit. Ich werde mein Leben opfern, damit meine Familie und andere Familien in den sogenannten Beitrittsgebieten ihr Leben friedlich dort verbringen können, wo sie heute leben. Die Entscheidung fiel mir nicht leicht. Ich hänge am Leben, einem Leben in Wahrheit, in Selbstachtung und eigenen Gestaltungsmöglichkeiten...Ich bin Fraktionsvorsitzender des Neuen Forums/Bündnis 90 der Gemeinde Zepernick und Mitglied des Kreistags Bernau. Was ich in diesen Parlamenten erlebe, ist das Aufgeben jeder eigenständigen Politik. Ich erlebte nur Anpassungsvorgänge an die Strukturen der alten Bundesrepublik. Eine einfache Umschichtung ist im Gange...Das ist nach meiner Auffassung auch der Kern in den sogenannten "offenen Vermögensfragen". Ein Vermögensabfluss von Ost nach West größten Ausmaßes wurde von Ihrer Partei, den hinter dieser Partei stehenden Kräften und Ihnen persönlich eingeleitet...Wir werden gar nicht mehr gefragt. Aus diesem Grunde, Herr Bundeskanzler, opfere ich mein Leben. Alle anderen Wege des Wachrüttelns bin ich gegangen. Als Familienvater habe ich die Pflicht, meine Familie vor Unheil zu schützen.«

Prof. Armin Ermisch
In ihrem Jahresbericht 2003 teilte die Universität Regensburg kürzlich mit, dass Dr. Oliver Bosch, Institut für Zoologie, im Rahmen des World Congress on Neurohypophysial Hormones im September 2003 in Kyoto, Japan, als bester Nachwuchswissenschaftler mit dem »Armin Ermisch Award 2003« ausgezeichnet wurde. Prof. Armin Ermisch, an dessen Schaffen dieser renommierte Preis erinnert, war ein hervorragender Neurowissenschaftler der Karl-Marx-Universität Leipzig, der sein ganzes Interesse den Neuropeptiden und der Blut-Hirn-Schranke widmete. Wegen seiner Mitgliedschaft in der SED wurde er nach der Wende »abgewickelt«. Es halfen keine Solidaritätsbekundungen seiner Kollegen in vielen Ländern, nicht Ehrenerklärungen seiner Leipziger Kollegen, nicht die in Unterschriftensammlungen seiner Studenten eingebrachten Einsprüche, auch nicht das Urteil des Amtsgerichts Dresden, welches seinem Widerspruch gegen seine Entlassung Recht gab. Da, wie seine Ehefrau sagte, seine Arbeit ihm wichtigster Lebensinhalt war, schied er 1995 aus dem Leben. Professor Felix Meier, williger ostdeutscher Vollstrecker der westdeutschen Abwickler ostdeutscher Wissenschaftler, verantwortlicher sächsischer Minister für den Rausschmiss Professor Ermischs, meinte auf Anfrage der »Umschau« des MDR noch im August 2004, dass es »damals« keine andere Möglichkeit gab. Wie Professor Peter Porsch jüngst erfahren hat, muss man im Sachsenlande immer noch mit denselben »Möglichkeiten« rechnen.

Wolfgang Junker
Der Minister für Bauwesen der DDR nahm sich im April 1990 das Leben.

Wolf Kaiser
Er war einer der großen Mimen des 20. Jahrhunderts, »The definitive Mac the Knife in the world« (Londoner Times) aus Brechts Dreigroschenoper. »Brecht hatte in seinen ganzen Arbeiten immer eine sozialkritische Komponente, in jedem Gedicht. "Da preist man uns das Leben großer Geister. Das lebt mit einem Buch und nichts im Magen in einer Hütte, daran Ratten nagen - Mir bleibe man vom Leib mit solchem Kleister. Das simple Leben lebe, wer da mag." Das ist das, was schon Mal
war, das waren die zwanziger, dreißiger Jahre. Da ist das geschrieben worden, da ist die Dreigroschenoper rausgekommen. Das war dieselbe Situation wie jetzt, genau dieselbe Situation wie jetzt. Und er soll froh sein, dass er tot ist, so traurig ich bin. Aber es hat jeder seine Zeit.

Würde er heute noch leben, würde er sich das Leben nehmen. Das würde er nicht durchhalten, diese Überschwemmung des Kapitals, Brachialgewalt, Nötigungen, Kriminalität, Hurerei. Und ich auch nicht.« Wolf Kaiser stürzte sich am 22. Oktober 1992, vier Tage vor seinem 76. Geburtstag, aus dem Fenster seiner in der Nähe des Berliner Ensembles gelegenen Wohnung.

Prof. Gerhard Riege
»Mir fehlt die Kraft zum Kämpfen und zum Leben. Ich habe Angst vor der Öffentlichkeit, wie sie von den Medien geschaffen wird und gegen die ich mich nicht wehren kann. Ich habe Angst vor dem Hass, der mir im Bundestag entgegenschlägt«, schrieb Prof. Gerhard Riege, der 1990 frei gewählte Rektor der Universität Jena und PDS-Abgeordnete im Deutschen Bundestag in seinem Abschiedsbrief, bevor er sich im Februar 1992 erhängte. Zu Tode gehetzt; »hetzen« hier sowohl im Sinne von Jagen, Verfolgen, aber auch, wie das Duden-Herkunfts-Wörterbuch Auskunft gibt, im Sinne von »aufwiegeln, Zwietracht säen, üble Propaganda treiben«; »sprachlicher Ursprung: Hass«.
Hanna Töpfer
Im Januar 1990 nahm sich Hanna Töpfer, stellvertretende FDGB-Vorsitzende, die ich gut kannte und sehr schätzte, das Leben. Sie war Absolventin der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, an der auch ich beschäftigt war. Von den Gesprächen, die wir führten, ist mir das letzte in besonders lebhafter Erinnerung, anlässlich meiner und Atti Griebels Ehrung mit der Hermann-Duncker-Medaille des FDGB. Es drehte sich um die Zensur, um die Demokratie-Defizite im öffentlichen Diskurs. Wenn ich nach einem Menschen gefragt werden sollte, für den »Beauftragter der Arbeiterklasse« in der DDR keine Worthülse, sondern ideelle wie praktische Maxime war, fiele mir auch unbedingt Hanna Töpfer ein.

Es waren viele, die den Freitod wählten. Käthe Reichel berichtet: »Ein Pfarrer, der jetzt, Ende November 1991, äußerte, dass er vom Friedhof gar nicht mehr runterkomme, antwortete auf die Frage nach den "letzten Briefen": "Sie schreiben keine". Wenn das so ist, haben sie sich in das Schweigen der Dritten Welt rasch eingefügt. Von einer Frau immerhin blieb als Zettel die Botschaft liegen: "Wir hatten nicht alles, aber sehr viel."«

Käthe Reichel: Selbstmorde - Selbstmordgedanken. In: Unfrieden in Deutschland, Weißbuch 2, Berlin 1992
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