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Die »Ratte« ist zurück

Der angebliche Top-Terrorist Christoph Seidler stellte sich- der Staat schwankt weiter zwischen Wut und Wahn

  • Lesedauer: 5 Min.

Von Rene Heilig

Karlsruhe am Freitag: Ein roter Renault hielt vor der Bundesanwaltschaft. Ein junger Mann mit Rucksack stieg aus. Er soll zu den gefährlichsten und heimtükkischsten Männern des Landes zählen. Doch nach zehnstündiger Befragung durch den Haftrichter durfte Christoph Seidler wieder gehen.

Hoffentlich zählen Fakten«, hatte er unlängst in einem Spiegel-Interview gesagt, mit dem sein Wiedereinstieg in die Zivilisation vorbereitet wurde. Öffentlichkeit, so scheint es, ist der einzige Schutz, auf den der als Mörder Gesuchte vertrauen darf. Was der Verfassungsschutz in seinem nun angeblich beendeten Aussteigerprogramm versprach, ist zu vage.

Zumal es - wenn Seidlers Angaben nur halbwegs stimmen - für ihn nicht zuständig ist. Denn es gilt ja nur für Mitglieder der Roten-Armee-Fraktion. Seidler sagt, es »stand nie zur Debatte, mich der RAF anzuschließen - weder vor dem Abtauchen noch danach.« Abgetaucht war er 1984. Der Sympathisant der RAF

erfuhr von einem bevorstehenden Hungerstreik der gefangenen Genossen, mit dem sie für ihre Zusammenlegung kämpfen wollten. »Bei ähnlichen Anlässen waren immer Leute aus den legalen Unterstützergruppen kriminalisiert und verhaftet worden. Mir war klar: Ich bin im Visier der Staatsschutzbehörden.« So sagte er es gegenüber dem Spiegel und übersandte den Behörden eine Reihe von Beweisen, daß er zwischen 1988 und 1992 - also auch zu Zeiten des Herrhausen-Attentats - in Libanon wohnte und arbeitete. Alfred Herrhausen, Sprecher der Deutschen Bank, wurde in Bad Homburg am 30. November 1989 um 8.34 Uhr mit seinem Dienstmercedes in die Luft gesprengt. Christoph Seidler und Andrea Klump sollen das bewerkstelligt haben. Die bundesdeutschen Ermittler behaupten es. Sie bewegen sich auf dünnem Eis.

Intern nannten sie Christoph Seidler »die Ratte«. Grund: Das Fahndungsfoto, auf dem Schneidezähne dominierten. Dann kam BILD und »knallte das Monster aufs Titelblatt«: Gesucht: Die »Ratte«. Das hatte schon eine andere Qualität. In der Öffentlichkeit konnte es nach dem kaum noch einen Zweifel geben, daß der Gesuchte zum Kopf der RAF gehörte und

im Verborgenen übelste Bluttaten vorbereitete. Was seriöse Ermittler des Bundeskriminalamtes so nicht bestätigen konnten. 1991 sollte Seidlers Bild sogar schon einmal vom Terroristen-Plakat verschwinden.

»Zufällig« jedoch meldete sich da beim hessischen Verfassungsschutz ein Gelegenheitsspitzel aus Zeiten der »Startbahn-West-Proteste« gegen den Ausbau des Frankfurter Airports. Siegfried Nonne hieß der erste »Kronzeuge« in Sachen RAF, und er kannte die Herrhausen-Killer. Angeblich. Mehr noch, er hatte den vier Männern, zu denen Seidler angeblich zählte, Unterkunft in seiner Bad Homburger Dreizimmerwohnung gegeben.

Die anderen Bewohner des Hessenrings 16 hatten nichts bemerkt. Nicht einmal der 1992 verstorbene Hugo Föller, Nonnes Halbbruder, der in der fraglichen Zeit im selben Quartier campierte, merkte etwas von den Fremden. Als Spezialisten den Keller, in dem angeblich die Bombe gebastelt wurde, untersuchten, fanden sie zwar Spuren von Sprengstoff, doch nicht von jenem, der beim Attentat benutzt worden ist.

Kurz: V-Mann Nonnes Angaben sind höchst fragwürdig. Doch es sind die einzigen, über die das BKA im Falle Herr-

hausen verfügt. Hatte da eine Ermittlungsbehörde der anderen »Amtshilfe« gewährt? Bereits wenige Wochen nach seiner Aussage gab Nonne die dargeboteneVersion auf. Inhalt des Presse-Dementis: Zwei Beamte des Verfassungsschutzes seien beim »Aufbau des Zeugen« nicht einmal vor indirekten Morddrohungen zurückgeschreckt. Man wisse ja, daß Nonne - psychisch labil, alkoholund drogenabhängig und bereits in psychiatrischer Behandlung - selbstmordgefährdet sei. Und bist du nicht willig... So etwa soll das Gespräch geendet haben.

»Monitor« und ein »ARD-Brennpunkt« informierten über den Widerruf des »Kronzeugen«. Danach meldete sich ein Behördeninsider, der einem WDR-Journalisten Einblick in stinkgeheime Akten des Hessischen Verfassungsschutzes gewährte. Sie bestätigten die Version vom »gebackenen Kronzeugen«. Nonne lernte seine Rolle aus einer Art Drehbuch Wort für Wort auswendig und plapperte sie auf Abruf vor.

Was tat die Justiz? Sie ließ sich weiter von Wut und Wahn leiten. Noch im März 1995 antwortete die Bundesregierung auf eine entsprechende Parlamentsanfrage: »Sowohl die Bundesanwaltschaft wie auch das Oberlandesgericht Frankfurt, das das Strafverfahren gegen Siegfried Nonne wegen Beihilfe zum Sprengstoffanschlag auf Dr. Alfred Herrhausen...gemäß des Kronzeugengesetzes eingestellt hat, halten die Kernaussagen des Geständnisses von Siegfried Nonne für zutreffend.«

Gleichzeitig suchte man intensiv nach

dem »Verräter« aus den eigenen Reihen, spürte den Journalisten nach, belästigte Nonnes Rechtsanwalt. Als Ekkehard Sieker, Wolfgang Landgraeber und Stefan Wisnewski 1994 ihr kritisches Buch »Das RAF-Phantom« veröffentlichten, fielen Durchsuchungskommandos über deren Wohnungen sowie die Monitor-Redaktion und das Büro von Rechtsanwalt Dietmar Kleiner, Nonnes Beistand, her. Der Staat übte systematisch Terror aus. So observierte man Ekkehard Sieker und stoppte ihn bei jeder sich bietenden Verkehrskontrolle. Durch einen Zufall erfuhr er, daß seine Daten im HEPOLIS-Computer der Hessischen Polizei gespeichert waren. Sie suggerierten: Achtung, der Mann ist gefährlich, gegen ihn läuft ein Strafverfahren. Erst durch den Einsatz des Hessischen Datenschutzbeauftragten konnte dem Behördentreiben ein Ende gesetzt werden.

Seidlers freiwillige Rückkehr - als Erfolg des Staates verkündet - muß ein herber Schlag für die Bundesanwaltschaft, das BKA und diverse Geheimdienste sein. Was, wenn es gar nicht die RAF war, die Herrhausen (und vielleicht ja auch den Ex-Treuhandchef Rohwedder und andere) ermordet hat?

Wehe! Ein sorgsam gezimmertes Gefahrenpotential, das fast die Grundfesten unserer Demokratie erschütterte, wäre verloren. So weit läßt es Bonn bestimmt nicht kommen. Zitat aus dem vergangenen Jahr: »Die Ermittlungen bieten keine Anhaltspunkte für die Annahme, daß neben der »RAF« andere mögliche Täter für die Tat in Frage kommen.«

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