Sexualmorde - tödliche Spitze eines Eisbergs
Gewalttätige Übergriffe spiegeln Ungleichheit und Dominanz innerhalb der Gesellschaft
Der jüngste Sexualmord geschah in Doberstau. Ein Ort in Trauer.
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Adolf Gallwitz
Unser Autor ist Professor an der Polizeihochschule Villingen/ Schwenningen. Der Psychologe leitet die Forschungsgruppe »Sexuelle Gewalt«
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Wir leben in einem Land mit einem erschreckenden Ausmaß an sexuellen Übergriffen. Jedes vierte Mädchen und jeder zwölfte Junge werden mindestens einmal als Kind Opfer eines sexuellen Übergriffs. Experten streiten sich zwar noch, ob die Zahlen des polizeilichen Arbeitsnachweises mit 10, 20 oder vielleicht 30 multipliziert werden müssen, um die Realität abzubilden, inzwischen wird jedoch kräftig weiter mißbraucht.
Der sexuelle Mißbrauch ist sowohl historisch, als auch in unserer Zeit ein alltägliches Phänomen. Es wurde auch in der psychologischen Forschung fast hundert Jahre lang eher bagatellisiert, die Wissenschaft stand selten auf der Seite der Opfer, sondern wurde allzu oft Teil des gesellschaftlichen Verleugnungssystems. In wellenförmigem Auf und Ab wechseln sich Aufdeckungs- und Verharmlosungsbewegungen ab. Glaubt man den einen, brauchten wir dringend ein flächendeckendes Netz von Beratungsstellen, die auch ohne Wissen der Eltern Hilfe anbieten, und Prozeßbegleitung. Glaubt man den Kritikern, ist alles nur Hysterie, glaubt man gar den Pädophilen, sind sie es, die die Kinder wirklich lieben und sie sexuell befreien.
Bei keinem anderen Delikt ist das Hantieren mit Statistiken menschenverachtender als im Bereich sexuell motivierter Tötungsdelikte. Zwei Kinderleichen mehr oder weniger in einem Jahr, und schon sprechen Experten von zweistelligen Veränderungsraten. Dieser Deliktbereich ist von seinem Aufkommen her im Vergleich zur übrigen Kriminalität unbedeutend und erzeugt in unserer Gesellschaft aus vielfältigen Gründen immer noch zu wenig Handlungsdruck. Woher wissen die Statistiker überhaupt, wieviel Kinder jährlich sexuell motivierten Tötungsdelikten zum Opfer fallen? Der Arbeitsnachweis der Polizei allein, die jährlich veröffentlichte polizeiliche Kriminalstatistik, hat mit der Wirklichkeit, dem Hellfeld auf dem Gebiet der sexuellen Übergriffe, wenig zu tun. Zum einen haben wir das Dunkelfeld der zur Zeit über 800 über lange Zeit vermißten Kinder in Deutschland. Zu dieser furchtbaren Zahl kommen jeden Monat im Durchschnitt fünf bis sieben neue »Fälle«. Man muß davon ausgehen, daß ein nicht unerheblicher Teil dieser Kinder zu den Gewaltverbrechen hinzuzählen ist, auch wenn
die schreckliche Gewißheit nie ans Licht kommt. Es ist schwer, Leichen zu finden, wenn man nicht genau weiß, wo man suchen muß. Unrealistisch ist auch das Ausmaß an sexueller Gewalt, das im Arbeitsnachweis der Polizei abgebildet ist. Wie alle Untersuchungen aus dem In- und Ausland zeigen, kommen aus den Bereichen, in denen die meisten sexuellen Gewaltdelikte begangen werden, aus der Familie, dem Umfeld des Opfers die wenigsten Anzeigen. Sie werden eher gegen den fremden Exhibitionisten und den eigentlich seltenen Fremdtäter erstattet. Unwissenheit, Hilflosigkeit, Angst, emotionale und finanzielle Abhängigkeit haben eben ihre Wirkung.
Die zweite »Statistik« ist das Interesse der Medien und damit der Öffentlichkeit. Und hier fällt in der Tat eine Häufung von Berichten über gefundene Leichen mißbrauchter Kinder ins Auge. Unter dem Druck dieses medialen Interesses ist man sogar von offizieller Seite zu ungewöhnlichen Aktionen und Maßnahmen bereit. Es ist zu bedauern, daß nicht nach allen vermißten Kindern innerhalb ähnlich kurzer Zeit, mit einem Aufwand von mehreren Tausend Menschen und entsprechender Technik gesucht werden konnte, denn der Faktor Zeit entscheidet, ob Opfer gerettet, Fälle aufgeklärt oder nie gelöst werden.
Nicht wenige Sexualstraftäter können ihre Karriere in diesem Land scheinbar unbemerkt als Jugendliche beginnen. Gewalttätige Übergriffe durch Gleichaltrige werden immer noch als vorübergehende, entwicklungsbedingte Belanglosigkeiten abgetan oder völlig totgeschwiegen. Obwohl gerade in diesem Bereich Prävention und Therapie wirklich helfen könnten, fehlt es an Beratungs- und Behandlungsangeboten. Die zunehmende Bereitschaft zu schweren Übergriffen, die auf das Konto von jungen Tätern geht, weist auf das Dunkelfeld hin. Es waren immer schon zu einem beträchtlichen Ausmaß Gleichaltrige, die für sexuelle Gewalt verantwortlich waren. Ein Viertel der Mädchen und ein Drittel der Jungen werden Opfer gleichaltriger Täter. Gleichzeitig weist ein nicht unerheblicher Teil der Sexualstraftäter Auffälligkeiten in der Kindheit und Jugend auf. Datenschutz und Kinderschutz haben diese Auffälligkeiten verborgen. So gibt es Tötungsde-
likte in Deutschland, die geklärt sind, obwohl der Täter unbekannt blieb. Dieser Widerspruch bedeutet, der Täter war zur Tatzeit noch nicht strafmündig und damit nicht straffähig. Daher kann er zu seinem Schutz nicht benannt werden. Bei dem dabei vielleicht auftretenden Unverständnis bleibt nur die Hoffnung, daß dieses Kind trotz aller Daten- und Kinderschutzbestimmungen hoffentlich einer Behandlung zugeführt werden kann. In deutschen Großstädten erfolgen 75
Prozent der polizeilichen Streifenwageneinsätze wegen »Gewalt in der Familie«. Untersuchungen belegen das hohe Ausmaß alltäglicher Gewalt in Familien und Beziehungen. Und dort, wo Gewalt zu Hause ist, ist auch sexuelle Gewalt nicht schwer zu finden. Ist dieser Makel der Grund, warum um unsere »Keimzellen der Gesellschaft«, um unsere Familien immer noch so hohe Mauern gezogen werden? Nicht auszudenken, welches Vorbild, welche Lernmöglichkeiten viele
junge Menschen, Täter und Opfer, hier täglich finden.
Wir leben in einem Land, in dem die Gleichberechtigung der Frau, die Stärkung von Kinderrechten, ein allgemeines Züchtigungsverbot nach wie vor dringend umzusetzende Ziele wären. Eine Gesellschaft, in der die traditionelle Rollenverteilung leider immer noch die Regel ist: Partnerinnen und Kinder sind männlicher Besitz, Männer müssen in der Sexualität dominieren und ein Recht auf Bedürfnisbefriedigung haben, auch wenn sie damit gegen Bedürfnisse anderer verstoßen; Gewalt kann ein legitimes Mittel sein. Diese Einstellungen finden sich leider nicht nur bei männlichen Tätern, sondern auch in mancher »Männerrunde«.
Wir leben in einem Land, in dem soziale Spannungen und soziale Ungleichheit zugenommen haben. Beengte Wohnverhältnisse, zunehmende Arbeitslosigkeit, soziale Isolation, Perspektivlosigkeit der Jugendlichen und vieler noch nicht Etablierten, schaffen ein Klima, in dem die Gewaltbereitschaft größer wird. Vor allem von jungen Männern, denen es an sozial anerkannten Möglichkeiten zur Erlangung von Status, Identität und Ansehen innerhalb ihrer Subkultur mangelt, wird die körperliche und sexuelle Aggression als Lebensstil legitimiert. Sie sind es, die eine besonders konservative soziale Ordnung zwischen den Geschlechtern herstellen. Und sexuelle Gewalttäter unterscheidet nichts von allgemeinen Gewalttätern. Sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder ist Ausdruck eines auf Ungleichheit und Dominanz ausgerichteten Gesellschaftssystems.
Eine Reihe strafrechtlicher Versäumnisse bedürfen in Deutschland dringend einer Korrektur. So ist es ein Ärgernis, daß der Besitz von Kinderpornographie, auch der sogenannte Altbestand, nicht endlich als eigener Straftatbestand, unabhängig von pornographischen Produkten mit Tieren oder Gewalt, anerkannt wird. Es wäre zu wünschen, daß dabei realistische Verjährungsfristen - vor allem im Hinblick auf die neuen Medien und ein etwas empfindlicherer Strafrahmen geschaffen werden. Kinderpornographie hat in Deutschland immerhin etwa 40 000 Abnehmer und ist ohne sexuelle Gewalt gar nicht herstellbar.
Wir leben in einem Land, in dem immer mehr Familien mit ihren Beziehungsproblemen und materiellen Sorgen und Ansprüchen in einer Weise beschäftigt sind, daß nicht mehr genügend Zeit für Belange der Kinder bleibt. Familien, die Scheidung, Trennung oder Tod bis ins Mark erschüttert hat, Familien, in denen ein emotional angespanntes Klima, Feindseligkeiten zwischen Eltern bzw Eltern und Kind herrschen, Familien, die Gefahr laufen, mehr Opfer oder Täter aufzuziehen, als gesunde Persönlichkeiten entwickeln und heranwachsen zu lassen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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