Hitlers Vorbild: Enver Pascha?

Der Völkermord an den Armeniern - bis heute ungesühnt und verleugnet

  • Friedemann Kluge
  • Lesedauer: 4 Min.
Ein Mord am helllichten Tag auf der Berliner Hardenbergstraße, Ecke Fasanenstraße, steht am Anfang des Buches und am Ende eines der blutrünstigsten Kapitel der Menschheitsgeschichte, in dem zwischen 800000 und 1,4 Millionen Menschen ihr Leben lassen mussten. Das Berliner Mordopfer hat einen Namen, Talaat Pascha, und ist an entscheidender Stelle »als unumschränkter Diktator der Türkei« (Hosfeld) mitverantwortlich für den Genozid an einem Volk, dessen vollständige Ausrottung ein offen erklärtes und beinahe erreichtes Ziel war. Es geht um den Massenmord der Türken an der armenischen Bevölkerung in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts, und das Attentat auf Talaat ist ein sorgfältig und von langer Hand vorbereiteter Fememord: Eine von mehreren Hinrichtungen jener Täter, die der ordentlichen Gerichtsbarkeit hatten entkommen können und deren Namen nun auf den geheimen Abschusslisten ihrer exilarmenischen Verfolger stehen. Rolf Hosfeld erzählt die Geschichte dieser »Operation Nemesis«, eingebettet in die Geschichte des Vernichtungsfeldzuges gegen die Armenier. Eine seltsame Koalition ergab sich da: Türken und Kurden, bis auf den heutigen Tag einander sonst eher feindlich gesinnt, machen bei der Armeniervernichtung gemeinsame Sache. Und es erstaunt doch, dass in der Sprache der Nazis ähnliche Wortwahl zu finden ist wie bei den türkischen Tätern. Was den Türken die Armenier waren, waren den Nazis die Juden, meint Hosfeld. Hitler habe sich Enver Pascha zum Vorbild erkoren. »Paranoia breitet sich aus, die in... präventiver Notwehr zur Rettung des Reiches gipfelt.« Da war die Rede von der armenischen »Ausbeuterrasse«, die (1908) in der Forderung gipfelte: »Kauft nicht bei Armeniern!« Auch andere Parolen kommen uns »vertraut« vor: »Die Türkei den Türken!« Hier wie dort werden in Primitivmetaphorik die Heilkräfte der Medizin bemüht: Von »inneren Tumoren« ist die Rede, von denen das Land »gesäubert« werden müsse. Was später in Deutschland der »ewige Jude«, das ist dort schon damals der »ewige Armenier«. Dort das »Großtürkische Reich«, hier das »Großdeutsche Reich«. Das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« von 1933, das »Nichtarier« vom Öffentlichen Dienst ausschloss, war ähnlich einer schon 1915 durch die Türken an den Armeniern praktizierten Gesetzgebung, und selbst Reichspogromnacht und Wannsee-Konferenz verfügen über modifizierte türkische Vorbilder (»Komitee zur Lösung der armenischen Frage«). Geradezu bizarr ist die Vergleichbarkeit der Genozide an Armeniern und Juden in ihrer Nachgeschichte. Denn nach getaner Untat ringt man sich zwar das Bekenntnis ab, dass es bei den Deportationen »scheußliche Taten« gegeben habe, dass alles dies jedoch »ohne Wissen der Regierung« geschehen sei. Niemand hat von nix gewusst - wie bei uns 1945! Erschütternd, dass der deutsche Militarismus seine Schmutzhände auch bei diesem Völkermord schon mit im Spiel hatte: Obwohl man sowohl durch Reiseberichte als auch durch die hochoffiziellen Depeschen der deutschen Botschaft bestens im Bilde über das war, was sich im Innern der damaligen Türkei abspielte, griff man nicht nur nicht ein, sondern versuchte, im Gegenteil, mit den Mitteln der Zensur die Verbreitung der Gräuelnachrichten zu unterdrücken. Kein Wunder: Es herrschte Krieg, und die Türkei war Bündnispartner! Selbst der heute noch von gewissen Kreisen hoch verehrte »Vater des deutschen Liberalismus«, Pastor Friedrich Naumann, entblödete sich nicht, in Deutschlands »weltpolitischer Sendung« einen »sittlichen Grund« zu sehen, »weshalb wir gegen die Leiden der christlichen Völker im türkischen Reiche politisch gleichgültig sein müssen«. So nahm denn der erste Genozid des 20. Jahrhunderts seinen furchtbaren Verlauf. Viele Einzelheiten sind bis heute nicht aufgeklärt (z.B. die Gräuel der »kilikischen Apokalypse« von 1909, der allein 20000 Armenier zum Opfer fielen), nichts wurde jemals aufgearbeitet, im Gegenteil: Die Leichen der Hauptschlächter Enver Pascha und Talaat Pascha ruhen noch heute in Ehrengräbern (!) auf dem Freiheitshügel in Istanbul. Und wo sind die Gedenkstätten für den armenischen Holocaust? So beschämend die Antwort ist: Es gibt keine - oder nur jene bescheidenen, auf Bücher beschränkten. Unter diesen aber ist das vorliegende Buch eines der würdigsten und bedeutendsten, bei dem nur eines zu bedauern ist: dass es nicht von einem türkischen Autor verfasst und nicht zuerst in der Türkei publiziert wurde. Aber von solcherlei ehrlicher wie ehrenvoller Aufarbeitung der eigenen, blutigen Geschichte ist das EU-Anwärterland wohl noch weit entfernt. Rolf Hosfeld: Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 351S., geb., 19,90 EUR.

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