Forschungen am Kyffhäuser: Höhlen, Heiligtümer, Kannibalen
Reinhold Andert
Lesedauer: 5 Min.
Mit dem Kyffhäuser verbinden die meisten vor allem jenes imposante Denkmal, das der deutsche Kriegerverein ab 1890 zu Ehren des wiedererstandenen Kaiserreiches errichten ließ. Dass man sich damals für diesen Standort entschied, hing mit der bekannten Sage vom Kaiser Barbarossa zusammen, der in diesem Berg schläft. Es gibt aber noch viele andere Sagen über den Kyffhäuser, in allen ist die Rede davon, dass dieses Gebirge hohl ist. In seinem Inneren wohnen Gespenster, Zwerge, Riesen, Prinzessinnen, Frau Holle und, wie gesagt, der Kaiser Rotbart mit seinem Hofstaat. Sollten die Sagen stimmen, müsste es ziemlich eng in diesem kleinsten Mittelgebirge Deutschlands zugehen. Tatsächlich aber gibt es im Kyffhäuser zahlreiche Hohlräume und Erdspalten. Er besteht zu großen Teilen aus Gips, den der Regen in Jahrhunderten auswusch.
Die größte Höhle wurde 1865 entdeckt, die Barbarossahöhle bei dem Dorf Rottleben. Hier zeigt man sogar den Tisch, an dem Kaiser Rotbart sitzt und schläft, wenn die Besucher gegangen sind. Alle hundert Jahre wacht er auf und fragt, ob die Raben noch um den Berg kreisen. Tun sie es, dann schläft er wieder ein. Aber irgendwann wird er mit seinem Heer hervorbrechen, um die Habgier der Fürsten zu strafen und wieder gerechte Verhältnisse zu schaffen.
In dieser Sage sind mehrere historische Ebenen vereint. Die Raben beispielsweise kommen aus der germanischen Mythologie, sie sind die Begleiter des Gottes Odin. Das Schlafen aber, das Erwachen und Heilbringende, was mit Barbarossa verknüpft wird, stammt aus dem uralten Kult der göttlichen »Mutter Erde«, die im Winter schläft, im Frühjahr erwacht und reiche Frucht hervorbringt. Als unsere Vorfahren vor etwa viertausend Jahren begannen, den Boden zu bearbeiten, wurden sie sich dieses Wunders so recht bewusst. Sie verließen die Höhlen und bauten sich Hütten auf ebenem Gelände. In den Höhlen sahen sie die Eingänge zur Unterwelt, zur göttlichen Wohnung. Dorthin pilgerten sie regelmäßig, opferten der Göttin, bedankten sich für die empfangenen Gaben oder erinnerten sie vielleicht daran, das kommende Frühjahrserwachen nicht zu verschlafen.
All das und noch mehr steht im Vorwort des Buches »Höhlen, Heiligtümer, Kannibalen« von Günther Behm-Blancke, das jetzt im Dingsda-Verlag Querfurt nach fünfzig Jahren wieder aufgelegt wurde. Als ich vor vielen Jahren darin herumblätterte, konnte ich es nicht mehr aus der Hand legen. Ich musste es in einem Ritt durchlesen. Es war das Spannendste - hier sei das Modewort erlaubt -, was mir je an archäologischer Literatur begegnet war.
Die eigentliche Geschichte des Buches beginnt im Jahre 1950, als ein Schüler aus Bad Frankenhausen im Weimarer Museum für Ur- und Frühgeschichte auftauchte und einige Scherben zeigte, die er beim Buddeln in einer Kyffhäuserhöhle gefunden hatte. Behm-Blancke war so überrascht, dass er sofort mit dem Jungen diese Höhle aufsuchte. Was nun folgte, war eine siebenjährige Grabungsaktion, über die der Autor Tagebuch führte und aus dem später dieses Buch entstand.
Wie in einem Krimi wird Indiz zu Indiz gefügt und aus scheinbar langweiligen Scherben, Knochen, Fackelresten und Schmucknadeln ensteht ein lebendiges Bild der frühen Bronzezeit in Mitteldeutschland. Bei der Untersuchung einiger Knochen machte der Autor eine sensationelle Entdeckung: es waren Menschenknochen, die gewaltsam beigebrachte Schnittspuren aufwiesen. Nachdem das im Labor bestätigt wurde, stand fest, unsere Vorfahren waren Kannibalen, Menschenfresser. Was aber waren die Gründe dafür? Hunger kann es nicht gewesen sein, dazu befanden sich in der Umgebung zu viele Tierknochen. Und warum wurden vor allem junge Menschen geopfert und verspeist? In den Wintermonaten, in denen die Grabung ruhte, besorgte sich Behm-Blancke alles, was er zum Thema Kannibalismus kriegen konnte. Er teilt es dem Leser mit, indem er das Fachchinesisch der wissenschaftlichen Abhandlungen in eine verständliche Sprache übersetzt. Man erfährt, dass Kannibalismus in fast allen Kulturkreisen eine Zeit lang üblich war. In allen Mythologien finden sich Andeutungen darüber und auch das Ende des Kannibalismus, das Verbot von Menschenopfern, wird in vielen Sagensammlungen erwähnt. Am Bekanntesten hierzulande ist, neben dem Märchen von Hänsel und Gretel, die biblische Geschichte von Abraham und seinem Sohn Isaak.
Als ich dieses Buch neulich wieder mal zur Hand nahm, entdeckte ich noch einen anderen reizvollen historischen Aspekt. Die Grabungen fanden zwischen 1950-57 statt. Der Autor schildert auch die technischen Umstände. So hatten sie beispielsweise immer eine halbe Stunde Pause, wenn ein Foto in der Höhle gemacht werden musste, denn so lange dauerte es, bis sich der Magnesiumqualm des Blitzlichtes wieder verzogen hatte. In der Grabungshütte, einer primitiven Bretterbude, gab es weder Strom noch fließendes Wasser. Am Morgen wuschen sie sich mit rohen Kartoffelscheiben und an den Abenden werteten sie bei Kerzenschein die Funde aus, katalogisierten sie und träumten sich in jene unbekannte geheimnisvolle Zeit zurück. In jeder Zeile dieses Buches spürt man die tiefe Liebe des Autors zu seinem Beruf, sein Glück über seine sinnvolle Arbeit, seine Entdeckerfreude und die Liebe zu seiner Heimat, die ihm, wenngleich mit bescheidenen Mitteln, diese Möglichkeiten gab. So ist dies ein Buch nicht nur über, sondern für viele leider auch ein Buch aus einer längst vergangenen Zeit.
Günther Behm-Blancke: Höhlen, Heiligtümer, Kannibalen. Dingsda Verlag. 292 S., 40 Bildtafeln, geb., 26 EUR.
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