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  • Politik
  • Einar Schleef und seine Erzählung »Zigaretten«

Was das Bewußtsein nicht aushält

  • Hans-Dieter Schutt
  • Lesedauer: 4 Min.

Einar Schleefs Erzählung »Zigaretten« ist ein schmales Suhrkamp-Bändchen. »Wieso sollte er, da er doch sterben mußte, nicht leben?« steht als Textzitat auf dem Rücktitel.

Ein Mann sitzt in seinem Reihenhaus, von Frau und Tochter verlassen, ohne Arbeit, ohne Sinn, aber mit Kaninchen. Draußen die Krähen und der Schnee, drinnen Sessel, Klo und Bett. Und merkwürdige Bläschen auf dem Tee. Donnerstags kommt das TV-Programm. Ab und zu die Müllabfuhr. Außerdem sind da noch vier Mark für eine Packung Zigaretten. Der Mann müßte nur aufstehen und hinausgehen. Er wird es nicht tun.

Aber vielleicht wird er doch aufstehen. Das Haus anzünden. Einen Mord begehen. Vielleicht.

Der Text (für das erste Kapitel erhielt Schleef den Alfred-Döblin-Preis) verfolgt minutiös den Zustand einer Verdämmerung. Es ist allerhand loszuwerden an Gedächtnis, ehe der Rest Schweigen ist. Satz für Satz tropft die Zeit. Nichts entgeht der Beschreibung. Nicht der Bratkartoffelduft, nicht ein zersprungener Fingernagel. Der Theaterregisseur Schleef verfügt als Erzähler über einen untrüglichen Spürsinn für die Leidensdetails gemeinen Lebens. Der Mann in dieser Erzählung ist zurückgeworfen auf sich selbst. Ein Mensch, reduziert aufs Kreatürliche, ein Erleidender, der sich im eigenen ranzigen Gedankenfett dreht. Und es geht natürlich nicht nur um ein

einzelnes Ich. In jeder Such- und Abwehrgebärde, jedem Fragen und jeder lethargischen Nachlässigkeit ist auf irgendeine Weise auch das abgründige Rät-i sei menschlicher Existenz an sich mitgemeint, »jenes Leben ohne Tränen, so wie man es weint« (Beckett).

Bilder einer letzten Häuslichkeit entwirft der Autor in diesem Buch, und seine Hauptfigur mutmaßt wohl nicht zufällig (ohne es auszusprechen], daß man am Ende sein muß, um die Wahrheit über sich sagen (und ertragen!) zu können. Gelebt haben ist alles. Erkennen heißt, sich erinnern. Und Zukunft ist das, womit bloßes Denken nicht fertig wird; Wirklichkeit bleibt unheilbar und undankbar.

Für Schleef ist Literatur nicht an Aufklärung gekoppelt, an moralische Beistands- und Vorgabenpflicht. Eher hält er es mit Heiner Müller, der zum Gegen-

stand der Kunst das erklärte, was unerklärlich gegen die Schläfen pocht, jenes »Animalische«, das, »was das Bewußtsein nicht aushält«. Die Erzählung zeigt in ihren Gedankenfetzen, in ihrer Beobachtungsakribie, in den Bildfolgen von Erinnerung und innerem Monolog eine stationäre, verdinglichte Wirklichkeitserfahrung - und zwar als weitgreifend verhängnisvoll; nicht die Lebensprozesse selbst, sondern das verkümmerte Bewußtsein davon wird zum Ereignisbereich der Literatur Ein ereignisloser Bereich. Was sich auftut, ist verwartetes Leben; Leben unmittelbar vor einem Ende; Glück des erinnerten Glücks; Glück des täglichen Unglücks.

Schleef schreibt eine Sprache, die sich in monotoner Augenblickschronik, im ständigen Annullieren von Handlungsansätzen vorwärtsmalmt; gleichsam ein Beobachten und Schildern, das sich selber auffrißt. Wer gewohnt ist, beim Lesen möglichst ökonomisch dem Text Bedeutungen zu »entnehmen«, wird Schwierigkeiten bekommen. Schnell stellt sich die Gewißheit ein, daß nichts Neues mehr zu erfahren ist. Man kann, wenn man dabeibleibt, höchstens eine bedrückende Stimmung der Wahrnehmung beschreiben: Die einzelnen Wörter verlieren an Bedeutung; das, worauf sie verweisen,

verschwimmt, des Lesers Position als Beobachter einer beschriebenen Welt, und damit die Grenze zwischen Objekt und Subjekt, wird aufgehoben. Das Abenteuer des Vergleichs ist die Folge; Wie anders lebt man selbst?

Das Buch schweigt über die Grundfragen des Lebens. Die Frage ist doch nur-Wie kommen die Blasen auf den Tee? Jeder ist letztlich mit sich, mit der ablaufenden Zeit, mit der Leere, in die alles todsicher versinkt, allein. Wäre da eine Botschaft, sie brächte kaum Frohes: Das war so, das ist so, das wird so weitergehen, nur ewig wird es nicht so bleiben; es (keiner weiß genau, was »es« ist) wird sich abnutzen, schäbig werden, altern, und einmal wird es enden. Vielleicht. In diesem »Vielleicht« liegt der komödiantische Aspekt der traurigen Geschichte: Die Lebensrolle wird gespielt, mag sie auch unbegriffen bleiben.

Das einzige Mysterium also in mysterienloser Welt: daß der Mensch weitermacht in seiner dreisten Nichtigkeit. »Man weiß nicht, warum«, sagt Lucky in Becketts »Warten auf Godot«, und Schleef schreibt an dieser botschaftslosen Hiobspost unseres Jahrhunderts weiter

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