- Politik
- Für eine historische Hermeneutik der Diktaturen
Stalins Gulag und Hitlers KZ
Nicht erst Stephan Courtois, Herausgeber des »Schwarzbuchs des Kommunismus«, schon Andrzej Kaminski warf in seinem Buch »Konzentrationslager 1896 bis heute« (München/ Zürich 1990) Diktaturen und Lagersysteme in einen Topf und entrollte eine Folie der »Lagerisierung« = Totalisierung der Herrschaft in diesem Jahrhundert, ohne näher zu begründen oder auszuloten. Hingegen ist es aber nötig, von der Prämisse auszugehen, daß ungleiche Sachverhalte nicht auf dem Prokrustesbett der Begriffe gestreckt oder verkürzt und damit künstlich gleichgemacht werden können, sondern ihre jeweilige Spezifität zu beachten ist. Das heißt zunächst nicht mehr und nicht weniger, als sich um eine separate und präzise Analyse der Diktaturen zu bemühen und nicht dem wohlfeilen Angebot der terrible simplification zu verfallen.
Nach meiner Auffassung besteht der entscheidende historisch-hermeneutische Unterschied der beiden Diktaturen darin, daß der »Nationalsozialismus« versuchte, gewaltsam die in Deutschland spezifisch auftretende Krise der Moderne zu meistern, es dem Stalinismus hingegen darum ging, das Land erst »in die Moderne zu peitschen«, wie Stalin sich ausdrückte. Beide bedienten sich für ihre Projekte terroristischer Mittel, die schon deswegen oft ähnlich sind, weil sie um
das Modell der Moderne kreisen (um es, nebenbei bemerkt, gerade wegen dieser Mittel zu verfehlen). Unter Moderne verstehe ich in diesem Kontext die Herrschaft bürokratisch-industrieller Arbeitsteilung und Rationalität in der Gesellschaft. Aber Imperative und daher historische Physiognomie des Umgangs damit weichen entscheidend voneinander ab.
Der »Nationalsozialismus« verdankte sich der Sackgasse, in welche die deutsche Gesellschaft geraten war, und antwortete mit einem erklärten Herrenmenschenentwurf, der die militaristischen, bürokratistischen und rassistischen Züge der deutschen Geschichte beerbte und übergipfelte. Wer sich dabei auf der »richtigen« Seite befand, konnte nicht nur einigermaßen ungeschoren davonkommen, sondern in erheblichem Maß an den materiellen und moralischen Gratifikationen des Regimes teilhaben. Der Graben zwischen diesen und den »objektiven Feinden« (Hannah Arendt) war unüberwindlich gedacht. Wer in die Ungnade des mitleidlosen deutschen Spie-ßers und auf die andere Seite fiel, hatte kaum eine Chance, dem Tod zu entgehen. Das NS-Herrschaftssystem war insoweit dichotomisch, kalkulierbar, »perfekt«. Seine Opfer waren gewollt.
Auch der Stalinismus stellte einen Versuch dar, einer Sackgasse zu entkommen, nämlich jener, in welche die Revolution geraten war. In Rußland hatte sie eintreten können, weil die Gesellschaft hoffnungslos rückständig und zerrüttet war
Aber um zu siegen, hätte sie der materiellen und politischen Ressourcen des Westens bedurft. Als diese ausblieben, sah sich der Bolschewismus auf die eigenen mageren Hilfsquellen und eine passiv-bäuerliche Bevölkerung verwiesen. Dieser Zustand führte nicht nur zum Stalinschen Notprogramm des »Sozialismus in einem Lande« - der sich allerdings später zur Strategie mauserte, die Weltrevolution mit den nationalen Interessen der Sowjetunion in eines zu setzen -, sondern auch zur Diktatur der Partei gegenüber der Gesellschaft. In den ausbrechenden Kurs- und Führungskämpfen setzte sich das Stalinsche Zentrum durch, dessen voluntaristisch-terroristische Politik fast drei Jahrzehnte lang radial alle Sektoren der sowjetischen Gesellschaft durchdrang. Hiervon konnte sich letztlich niemand außer Stalin selbst sicher ausgenommen wissen. Der Terror war unberechenbar und umfassend, verschlang periodisch auch immer wieder Teile der Nomenklatura. Ironischerweise ist dies und die Allgemeinheit der Armut möglicherweise das wenige, das vom egalitären Programm der sozialistischen Revolution praktisch übrigblieb. Die Utopie der Befreiung des Menschen und der Menschheit verkam zum etatistischen Maßnahmenpaket, das die Bedürftigkeit der sowjetischen Gesellschaft mit enormen Zwangsmitteln zu beheben unternahm. Zwar flössen darin Motive der Gegnerbekämpfung ein, die Hauptachse bewegte sich jedoch um die krasse Ausbeutung
disponibler Arbeitsheere. Der Terror bildete die irrationale politische Form dieser Rationalität; im »Nationalsozialismus« hingegen trat die Irrationalität des rassistisch-imperialistischen Terrors in rationaler Form auf (Vgl. Zygmunt Bauman, Modernity.and the Holocaust, Cambridge 1989). Der-iTerror drückte jeweils die unterschiedlichen Logiken der ihm zugrundeliegenden politischen Projekte aus.
Im Stalinismus konnte man von Glück sagen, wenn man nicht in die Fänge des NKWD und des GULAG geriet. Im »Nationalsozialismus« mußte ein Mitglied der Mehrheitsbevölkerung schon Pech haben, um bei der Gestapo oder im KZ zu landen. Dort hatte man alle Mühe, dem allgemeinen, allerdings eher billigend in Kauf genommenen Elend und Sterben zu entkommen und war dann ein (wenn auch gezeichneter) freier Mensch. Hier mahlten die Mühlen des Terrors nach festgelegtem Takt; die in ihrem Bannkreis Befindlichen kamen alle früher oder später darin um und nur zu geringen Teilen davon. Dort war die Lagerobrigkeit vorwiegend am Produktionsausstoß interessiert, hier am Todesausstoß. Die Lagerverwaltung bestimmte dort die Regeln des Lebens und insofern auch die seines Erlöschens, hier die des Sterbens und allenfalls des Überlebens. Jenes Regiment mischte sich wenig in den Alltag und die Machtstruktur der Lagerbevölkerung ein, in der die Kriminellen mehr oder minder gleichrangig das Sagen hatten. Dieses setzte die SS an die erste Stelle in der Staffel der absoluten Macht, delegierte und diffundierte sich nach unten, je todesgeweihter die Lagerinsassen waren. Der GULAG sonderte beständig in Gestalt der dochodjagi, der Abkratzer, einen moribunden Bodensatz aus, während die anderen leben durften, ja sogar sollten. Das
KZ sah von vornherein für die überwältigende Lagermehrheit, insbesondere Juden, Russen und Zigeuner, den Tod vor; einer Minderheit war eine kurze Zeitspanne des Lebens eingeräumt.
Nach Kardinal Lustiger sind wir den Toten kein »pauschales Wehgeschrei«, sondern ,die ; genaue, Erhebung der Umstände, durch die und in denen sie ums Leben kamen, schuldig. Die allgemeine Totalitarismus-Rede leistet genau das nicht, sondern deckt mit ihren (politisch interessierten) Metabegriffen die Realität nur zu. Wenn wir überhaupt aus dem Vergangenen lernen können, dann müssen wir sein Terrain kennen.
In der ehemaligen DDR gab es sowohl nazistische wie stalinistische Lager, deren gedacht wird bzw gedacht werden soll. Abgesehen von der obigen Skizze ist jedoch in Betracht zu ziehen, daß jene wie Sachsenhausen oder Buchenwald den Kerntypus des KZs darstellten. Für die sowjetischen Speziallager ist dies keineswegs der Fall. Sie standen unter den Direktiven der Faschismusbekämpfung und der Sicherung des neuen deutschen Machtbereichs im Sinne der sowjetischen Lesart von Internationalismus und waren von Anfang an als Übergangslösung gedacht. In ihnen waren - wie (unberechtigt auch immer - der Gegnerschaft verdächtige Angehörige der besiegten Nation untergebracht. So stellten sie, gemessen am GULAG, eine untypische und periphere Erscheinung dar, obwohl sie manche seiner Züge teilten. Noch innerhalb des historisch-politisch gebotenen doppelten Gedenkens tun wir gut daran, weiter zu differenzieren.
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