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Versicherungsfall Pogromnacht

Szenische Lesung »Da muß der Jude bezahlen« nach einem brisanten Dokument aus Nürnberg Von Tom Mustroph

  • Lesedauer: 2 Min.

Das Sternfoyer der Volksbühne ist ein prädestinierter Ort für eine Sitzung der Herren Göring, Goebbels, Heydrich oder Funk. Kalt glänzender Marmor, aus der Reichskanzlei stammend, hohe Fenster und das Sitzen im Halbrund unterstreichen die Inszenierung der Macht. Gesprochen werden muß über den 9 November 1938 als Versicherungsfall.

Der Stenograph Fritz Dörr hatte das Protokoll der verhängnisvollen Konferenz in seinem Keller versteckt und übergab es nach Kriegsende den Amerikanern. Die Volksbühne und der Hessische Rundfunk brachten am Montag eine szenische Lesung mit zwölf Schauspielern nach

dem Dokument aus dem Nürnberger Staatsarchiv am Rosa-Luxemburg-Platz zur Uraufführung: »Da muß der Jude den Schaden bezahlen«.

Drei Tage nach der sogenannten Reichskristallnacht lud Göring zehn hohe Funktionäre aus Staat und Wirtschaft ein, um über die Folgen der Pogrome zu beraten. Allein der Glasbruch dieser einen Nacht belief sich auf das Doppelte der Schäden eines Jahres. Göring stieß es bitter auf, daß viele jüdische Geschäftsleute gegen Glasbruch, Diebstahl und Feuer versichert waren und jetzt deutsche Versicherungen haften mußten. Da die Allianz-Versicherung - vertreten durch Eduard Hilpert - mit Rücksicht auf das Auslandsgeschäft die Schadenssummen auszahlen wollte, konnten ökono-

mische Gepflogenheiten nicht mit einer Verordnung außer Kraft gesetzt werden. Göring verfluchte mehrmals den »berechtigten Volkszorn«, der sich, statt solch volkswirtschaftlichen Irrsinn anzurichten, viel stärker an Leib und Leben der jüdischen Bevölkerung hätte vergreifen sollen. Nach fieberhaftem Suchen einigte man sich: Schäden deutscher Lieferanten haben jüdische Geschäftsinhaber zu zahlen. Der Anspruch an die Versicherungen erlischt, sie behalten das Geld ein. An jüdische Vertragspartner wird ausgezahlt, die Summe jedoch umgehend vom Staat beschlagnahmt (Höhe insgesamt: 225 Millionen Reichsmark). Im Falle ausländischer Rückversicherungen deutscher Institute ist auszuzahlen, um an die Devisen zu gelangen.

Der Auftakt zur »Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben« war getan. Am selben Tag erließ Göring neben dieser noch zwei weitere Verordnungen. Eine belegte die jüdischen Bürger mit einer Kollektivstrafe von 1 Milliarde Reichsmark, die zweite verpflichtete sie zur Schadensbeseitigung auf eigene Kosten. Interessant übrigens, daß die österreicherische Bürokratie - nach Auskunft des damaligen Handelsministers Fischböck - die gleichen Ziele viel weniger spektakulär, aber ähnlich effizient erreichte.

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