New York: Ein Albtraum aus Gift

Hälfte der Bevölkerung durch Informationspolitik des Weißen Hauses verunsichert

  • Max Böhnel, New York
  • Lesedauer: 4 Min.
Das zerstörte »World Trade Center« wird mehr und mehr zum Umweltrisiko. Die Politiker wiegeln ab und geraten zunehmend in die Kritik - auch Präsident George W. Bush.
»Die Yankees haben gewonnen«, ruft der Bettler an der Brooklyner U-Bahnstation »6th Avenue« morgens den müden Pendlern zu, die sich auf den Weg zur Arbeit nach Manhattan machen - in der Hoffnung, dass die gute Nachricht sich positiv auf potenzielle Spender auswirke. Doch die Nachricht führt bei den meisten höchstens zu einem leichten Zucken im Gesicht. Baseball, der unter normalen Umständen jeden New Yorker elektrisiert, kann zur Zeit kaum ablenken.

Denn es gibt eine neue Zeitrechnung. Die Auswirkungen der Terroranschläge auf das World Trade Center bestimmen alles: Arbeitsleben, Freizeit, physische Gesundheit und mentale Verfassung. Am Katastrophenort steigen auch sieben Wochen danach noch Rauchwolken auf. Ein Drittel der 1,2 Millionen Tonnen Schutt ist abgetragen. Im Viertel unterhalb der »Canal Street« läuft der Verkehr wieder halbwegs normal, die wenigen abgeriegelten Häuserblocks um das WTC einmal ausgenommen.

Aber wenn bei den Bergungsarbeiten ein Stahlträger ausgegraben wird und dem stinkenden Schutt Sauerstoff zukommt, dann entzünden sich neue Feuer. »Downtown Manhattan« wird über Monate hinweg vor sich hin stinken. Und bei ungünstigen Winden weht der beißende Geruch immer noch bis Brooklyn hinüber Tag für Tag finden unter großer Anteilnahme von Bevölkerung und
Behördenvertretern und unter riesigen USA-Fahnen Beerdigungen von Opfern statt.

Die Zeitung »Daily News« führte gestern in der täglich aktualisierten Liste folgende Zahlen auf: 694 identifizierte Leichen, die 147 Opfer der beiden Flugzeuge, die ins WTC gerast waren, mitgerechnet, insgesamt 4617 Tote und Vermisste in New York. Die Anschläge auf das Pentagon und in Pennsylvania addiert, beträgt die Gesamtzahl 4842 - ohne die 19 mutmaßlichen Flugzeugentführer und Selbstmordattentäter. Vergangene Woche hatte die »Daily News« aufgedeckt, dass die Behörden der Stadt, des Staates und in Washington nicht mit offenen Karten spielen und das Gesundheitsrisiko herunterspielen. »Ein Albtraum aus Gift« titelte die Zeitung, der ein interner Bericht der Umweltbehörde »Environmental Protection Agency« zugespielt worden war.

Die Zahlen sind erschreckend: Dioxin, PCB, Benzol, Blei und Chrom verpesten die Luft und den angrenzenden Hudson-Fluss in unglaublich hohen Konzentrationen. Messungen am »Ground Zero« ergaben z.B., dass der Benzol-Gehalt am 11. Oktober 58fach über dem zugelassenen Höchstwert lag. Bisher haben die Behörden nur abgewiegelt und mit dem Nachweis, dass durch Manhattan kein Asbeststaub fliegt, für Ruhe in der Bevölkerung gesorgt. Das soll wohl so bleiben. So verschwand der Umweltbericht in der »New York Times« in verdünnter Form im hinteren Teil - allgemein wird der Eindruck erweckt, man könne eigentlich nichts Genaues sagen. Am »Ground Zero« sei es sicher nicht ungefährlich. Aber die Bergungsarbeiter seien mit Schutzanzügen und Sauerstoffmasken versorgt. Und Bürgermeister Giuliani kündigte jetzt an, die Feuerwehrleute vor Ort abzuziehen. Dagegen wollte die Feuerwehr-Gewerkschaft am Freitag protestieren.

»Es gibt keinen logischen Grund, weshalb sie uns da raushaben wollten, wo wir immer noch nach 200 Leichen von Feuerwehrleuten suchen«, so Gewerkschaftschef Kevin Gallagher. Giuliani wolle »Ground Zero« wohl schnell zum Bauplatz umfunktionieren. Dass es dort nicht immer mit rechten Dingen zugeht, wurde bereits vor drei Wochen bekannt. Bergungsarbeiter hatten festgestellt, dass mehrere Luxusgeschäfte unter dem Schutt geplündert worden waren, offenbar im Chaos des 11. September oder kurz danach. So hatten sich in den beiden Tagen nach den Anschlägen Plünderer als freiwillige Helfer ausgegeben. Möglicherweise bereicherten sich aber auch Polizisten oder Feuerwehrleute. Über die Hälfte der Bevölkerung ist Umfragen zufolge über das Weiße Haus und dessen Informationspolitik verunsichert. Präsident Bush will deshalb in der kommenden Woche eine »Rede an die Nation« halten.

Quelle großer Sorge ist inzwischen vor allem die Bedrohung durch Milzbranderreger, seit am vergangenen Mittwoch die aus Vietnam eingewanderte 61-jährige Kathy Nguyen starb. Ermittler und Mediziner rätseln über den Ansteckungsweg. Denn das vierte Anthrax-Opfer ist das erste, das nicht mit der Post, dem Kongress oder Medien in Verbindung stand. Auf Grund der jüngsten Fälle können die Behörden nicht länger ausschließen, dass Anthrax auch über Briefe an Privatpersonen übertragen wird. Inzwischen sind in New York auch Gasmasken und angeblich Anthrax-heilende Medikamente ausverkauft. Mehrere Hundert Mitglieder der uniformierten Nationalgarde patrouillieren inzwischen bewaffnet an Gebäuden, Brücken, Häfen, Bahnhöfen und anderen strategisch wichtigen Orten.

Selbst die Nachfolge von Rudolph Giuliani, der von einer Zeitschrift nach dem 11. September zum »Bürgermeister der Welt« ernannt worden war, bleibt angesichts des Ausnahmezustands in New York eine zweitrangige Frage. Der Multimillionär und Republikaner Michael Bloomberg wirft seinem demokratischen Gegner Mark Green vor, nicht das Zeug zum »Managen« der Stadt zu besitzen. Green wiederum attackiert Bloomberg, von Politik keine Ahnung zu haben. Recht haben beide, ansonsten unterscheidet sich ihre Herangehensweise in der Substanz nur wenig. Was den New Yorker Wählern durchaus bekannt ist. Aber bei einem von beiden muss man am 6. November ja das Kreuzchen machen.
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