»An Schnüren? Nicht mit mir«

Deutsches Theater Berlin: Gregor Gysi traf Friedo Solter

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Einmal sagt er »Kurzum!« und zieht einen messerscharfen Bilanzstrich durch die Bühnenluft. Da hat er die Lacher sofort auf seiner Seite, es ist die Gesprächsphase, da hatte sich der Impressario das rote Schaltuch, das wie eine prangende Krause um den Hals gelegt war, längst weggerissen - denn Geste braucht Raum, und Tonkraft braucht Atemfreiheit. Kurzum? Solche Art Verknappung, Präzision, Reduktion kann nicht Sache eines Friedo Solter sein, und also lacht das Publikum in Zuneigung und Amüsement. Kurzum? Nein. Ausschweifung, Bogenmalereien mit Händen und eruptiver Vokalkunst, Ausschmückung: ein Mann von Gewicht, aber mit behendester Sprungkraft und Hakenschlagfinesse durch sämtliche Themen, Gedankenansätze, Zeitläufte. Keine Frage holt ihn ein, hält ihn fest. Huiii!, flattert's durch den hellen Vormittag. Der Interviewer hört zu, aber zugleich sieht man ihm die Mühe an, wenigstens ein Quäntchen Ordnung, ein Minimum Reihenfolge in die Fragerei zu bringen; nach einer halben Stunde dann der halbresignative Seufzer: »So, ich bin jetzt bei Karteikarte 3.« Da ist der pralle Erzähler schon wieder weit weg, wühlt sich mit herrlicher Präsentierlust und heiterer Cholerik durch den Assoziationsdschungel; Gysi verloren, aber fröhlich hinterher.

In der Gesprächsreihe »Gregor Gysi trifft Zeitgenossen« am Deutschen Theater Berlin war am Sonntag Friedo Solter zu Gast - von 1959 an Jahrzehnte, mit kurzer Unterbrechung, an diesem Haus engagiert, Schauspieler, Regisseur, künstlerischer Leiter (»weiß auch nicht, was das ist«). Eigen, auch umstritten, ein wuchtiger Traditionalist, zu DDR-Zeiten ein großer Pädagoge und Ausbilder. Im Saal Kollegen wie die Spieler Horst Hiemer, Bernd Stempel, der Dramaturg Hans Nadolny, auch jene, denen er Lehrer und quasi Entdecker war: Christine Schorn, Dieter Mann, Christian Grashof.

Wenn so ein Mann die Bühne betritt, der Leib als lodernde Flamme, die jeden Raum frisst, Urgrundgewalt des Komödiantischen, wenn so ein Mann »seinen« Lebensort betritt - dann feiert die erwähnte Bühnenluft ein flirrendes Fest, zu dem alle Geister in den Wänden des Hauses herbeifledern und sich zum Wiedersehensreigen formen. Gysi wird einige von ihnen nennen, großer Applaus - das Aufzählspiel sei auch hier gespielt: Franke, Grosse, Ludwig, Grube-Deister, Macheiner, Piontek, Körner, Böwe, Heinz, Esche, Drinda, Mühe, Kahler, Kleinert, Weinheimer, Dommisch; dazu der Lebendkreis: Baur, Keller, Bendokat, Lebinsky, Gudzuhn, Manzel, Mellies, Ritter, Lang, Wachowiak …

Großes Wort und witzigste Wurschtigkeit, weite Kunst und wilde Kantine, Tollerei und tolle Aufführungen - Ensemble!, raunt's aus den Wänden, Solter wird das Wort des Öfteren kämpferisch, beschwörend trompeten. Besonders, als er über den Mut der Truppe spricht, einst zwei Intendanten verjagt zu haben, Perten und Rohmer. »Das war Selbstbewusstsein, demokratischer Mut, Zusammenhalt.« Aber ach, in jeder gefühlsbestimmten Rückschau ist »Ensemble« bestimmt auch ein Trugwort, eine trotzige Kostümierung der Eitelkeitsfronten, der Interessenskriege, der Niederschläge, die ihren erfolgreichsten Platz immer hinterm Rücken des Menschen haben - während vorn gelächelt wird, als fände Liebe statt.

Solches weiß Solter auch von Brecht zu erzählen, dessen Proben er als Student besuchte (was an der Berliner Schauspielschule verboten war, »die DDR und ihre Moskauer Clique, die wollten den Brecht nicht«). Brecht lobte eine Darstellerin, heuchlerisch lächelnd, um seinen Assistenten danach einzuschärfen: »Wenn ich die morgen wieder auf der Probe sehe, seid ihr alle entlassen.«

Solter, 1932 in Schlesien geboren, erzählt von seinen Eltern; der Vater, kaufmännischer Angestellter, ging wohl gern in den Krieg; er wollte raus und weg, die Mutter war »das ethisch-moralische Gewissen, sie zeigte auf Fotos von Himmler und sagte nur, ich möge mir die kalten Augen anschauen«. Gemüse sollte der Friedo in der Stadt kaufen und kam mit zwei Bänden Lenin zurück. Gysi fragt, ob er früh schon Schauspieler werden wolle und fügt an, er selber habe geträumt, Gepäckträger zu werden - in Filmen warfen die Kerle so schwungvoll die Koffer auf die Schiffe; so schafft Statur treffsicher jenen Traum, der ihr vielleicht gar nicht zusteht …

Solter schwärmt von Brecht-Gedichten, und überhaupt hatte er den Brecht schon hinter sich, als er dann Schauspielschüler wurde. Jetzt Erzählungen von den scharfen, klugen Stücken »des wunderbaren Autors Hartmut Lange«, Lob des (anwesenden) »großartigen Maskenbildners« Wolfgang Utzt, dessen Kunst-Köpfe ja wahrlich grandiose Geschöpf-Erfindungen, quasi Dichtungen aus zauberhaft vermengten Materialien waren, einmalig auf dem deutschsprachigen Theater. Dann Preisung des jungen Grashof, der ihn, den Schauspielschullehrer Solter, bei Proben zu einem Rolf-Schneider-Stück zu Tränen gerührt habe. Dann die Erkenntnis, Morus' »Utopia« zu früh, nein: rechtzeitig früh gelesen zu haben - dies Vernunft-Erlebnis habe ihn resistent gemacht gegen den Adenauer-Staat und dessen Staatssekretäre à la Globke. Resistent machte ihn das auch gegen ein Theater heute, das »Faxenkampf statt Klassenkampf« böte. Bericht auch von der großen Elisabeth Bergner: Als sie die DT-Ehrenbürgerschaft erhielt und mit Solter ins Gespräch kam über den Schauspieler Hans Otto, der sich für seinen Nazi-Widerstand ermorden ließ, da habe die Bergner unbegreiflicherweise gesagt: »Mein Gott, das hat er doch nicht nötig gehabt.« Eine der berührendsten Momente des Gesprächs; Schlaglicht auf eine wohl ewige Weltenteilung und die Frage, was hat der Mensch nötig, um sich treu zu bleiben.

Dazwischen expressive Ausflüge sonst wohin. Gysi kann immerhin loswerden, dass er mit Solter einst auf der Probebühne stand, als Apfelschuss-Objekt des Tell - leider besetzte Wolfgang Langhoff den Jungen dann anders, das, so Gysi »war der bittere Knick in meiner Karriere«. Solter - nichts da mit »kurzum« - klopft sich auf die Schultern, kichert »eitel Friedo«, und berichtet von seinen Nationalpreisen. Auf der Feier habe ihn Funktionär Abusch angesprochen, der Genosse Ulbricht liebe »spontane« Hoch-Rufe auf den Parteiführer, ob Solter nicht seine Stimme erheben möge. »Ich lehnte ab, plötzlich erklang es: Hoch lebe ... - wer war's? Manne Krug!«

Solter, parteilos stets, aufmüpfig (»das Wort Sozialismus hat für die DDR nie gestimmt«), von robuster Schädeligkeit, nennt sich einen »Granatapfel, der immer davor steht, zu platzen«. Warnung sei ihm, für den Beruf des Schauspielers, stets das gewesen, was er als Kind spielte: den Hampelmann, den man per Schnüre in Bewegung setzt. »Nicht mit mir.«

Am Ende, beim Applaus, Friedo Solter mit weit ausladenden Armen. Von Kurt Böwe hieß es immer, wenn er mit dieser Geste an die Rampe trat: Jetzt segnet er sein Publikum. Solter auch. Im Saal sitzt Horst Hiemer. Der einstige DT-Schauspieler veröffentlichte in »Sinn und Form« soeben wundersam gedankenreiche Texte übers »Theaterleben«, auch über den Komödianten: »Der Hanswurst der Neuberin, gefährlich, gewandt, schainbar naiv, undurchschaubar. Wie das Leben selbst. Und, zum Verwundern, doch ein Mensch, der Vergnügen bereiten konnte, anders als die Welt ringsum.« Ja, herrliches Gauklertum. Knallroter Schal, lohend wie das Feuer der Seele, das im Scheinwerferlicht brennt, verbrennt. Und, bitteschön, kein »Kurzum!« Arie, Monolog, Predigt, Botschaft, die eine ganze Welt meint, aber unter eine Clownsnase passt. Friedo Solter geht ab. Aber die geweckten Bühnengeister jubeln wohl, totenstillheiter, noch eine Weile nach.

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