Sechs Jahre bis zum ersten Kuss

Unbekanntes Land: Nordkorea

  • Peter Kirschey
  • Lesedauer: 3 Min.

Wie leben, lieben, arbeiten Nordkoreaner? Sehen sie fern, treffen sie sich mit Verwandten und Freunden, besuchen sie Café, Theater, Kino? Das Innenleben des fernöstlichen Landes bleibt uns verschlossen. Wir kennen die Massenszenen. Doch hinter den Spektakeln der Macht liegt der Alltag der Nordkoreaner im Nebel. Nun ist ein Buch mit dem unspektakulären Titel »Die Kinogänger von Chongjin« erschienen, das die Lebensgeschichten einfacher Menschen nachzeichnet, Menschen, die im Reich der Kim-Dynastie lebten und dem »Führer« huldigten wie alle 23 Millionen Einwohner, und die dann jedoch, an einem dramatischen Wendepunkt ihres Lebens, die Flucht über die chinesische Grenze wagten.

Gewiss, Flüchtlingsgeschichten sind mit Vorsicht zu genießen, müssen sich doch die Akteure nicht selten ihre Biografien den Anforderungen in ihrer neuen Welt zurechtschneidern. Löst man aber den Bodensatz der Dramatisierung, ist es möglich, sich ein authentisches Bild zu machen. Ein Bild, bei dem einem der kalte Schauer über den Rücken läuft.

Im Reich der Kims ist es unmöglich, mit einem »normalen« Koreaner ins Gespräch zu kommen, sich mit ihm über Sorgen und Nöte auszutauschen. Jeder Nordkorea-Besucher hat diese Erfahrung gemacht. Es ist nicht nur die sprachliche Barriere, es ist vor allem das von Kindheit anerzogene tiefe Misstrauen der Nordkoreaner gegenüber einem Fremden. Und es ist die Angst, sich und seine Familie Gefahren auszusetzen, die mit dem Kontakt zu Ausländern verbunden sind.

Chongjin ist eine Stadt im Norden des Landes, nahe der chinesischen Grenze. Von hier aus gelang es einigen Nordkoreanern, auf abenteuerlichen Umwegen und unter Todesgefahr, nach Südkorea überzusiedeln. Sie hatten die Wahl zu verhungern oder das für sie Undenkbare zu wagen. Ihre Lebensgeschichten hat die amerikanische Journalistin Barbara Demick aufgeschrieben, die als Korrespondentin in Seoul und Peking arbeitet.

Das Mädchen Mi Ran und der Junge Jun Sang, die beiden Hauptfiguren ihres Buches, kennen sich seit der Kindheit; es vereint sie ihre Liebe zum Kino. Doch sie gehören unterschiedlichen »Kasten« an, der parteinahen und einer von der Führung des Landes als feindlich eingestuften Schicht. Doch sie kommen sich allmählich näher - in einem absurden System gegenseitiger Kontrolle, ständiger Beobachtung, Vorbehalten und »Führer«-Kult. Die Autorin fragt: »Können Sie sich das vorstellen? Drei Jahre bis zum Händchenhalten, sechs Jahre bis zum ersten Kuss? Nein, nicht einmal ein Kuss, nur ein Berühren der Wange mit den Lippen.«

Die Katastrophe kommt langsam. Die Lichter gehen aus, immer mehr Fabriken stehen still, die öffentlichen Ämter stellen ihre Arbeit ein, in Krankenhäusern fehlen Medizin und Betten. Mehr und mehr schwinden Arbeitsmotivation und Lebensfreude. Die Nacht der Hoffnungslosigkeit senkt sich über die Stadt und über das gesamte Land. Auch der Kult um den »Großen Führer« bröckelt. Inmitten des Chaos Mir Ran und Jun Sang. Ihre Liebe, die sie über so viele Jahre zusammengeschweißt hat, zerbricht - an Standesdünkel, an Hunger und Not, an der Verrohung der Sitten und an der immer offensichtlicher werdenden Diskrepanz zwischen dem offiziellen Propagandabild vom »Himmelreich auf Erden« und dem entwürdigenden Alltag. Beide gehen getrennte Wege. Beide fliehen. Beide treffen sich nach Jahren wieder. Sie sind sich fremd geworden und doch nahe geblieben.

Armut und unerbittlicher Überlebenskampf in der Diktatur haben Millionen Seelen zerstört. Tausende starben. Die Mehrheit ergab sich dem übermächtigen Schicksal. Wenige entkamen. In Südkorea angelangt und nun mit allen »Segnungen« einer kapitalistischen Konsumgesellschaft ausgestattet, haben sie mit einer ihnen fremden Welt zu kämpfen, in der das Geld der Maßstab aller Wertvorstellungen ist. Nicht jeder schafft es, sich an- und einzupassen. Ein Buch, das unter die Haut geht.

Barbara Demick: Die Kinogänger von Chongjin. Droemer Verlag, München. 430 S., geb., 19,95 €.

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