Schlagbäume, Stromzäune, Wächter mit Waffen

Marie Hermanson: Die Schwedin hat ihren Thriller in die Schweizer Alpen verlegt

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein Brief aus der Hölle? Daniel, ein junger Schwede, erschrickt, schaut noch einmal. Gottlob, »Helvetia« steht auf der Briefmarke, nicht »Helvete« (schwedisch für »Hölle«). Daniel ist Übersetzer und Lehrer in Uppsala, Single, eben in einer Lebenskrise. Der Brief stammt von Zwillingsbruder Max. Dieser Max scheint eine unstete Gestalt zu sein, stets unterwegs in dunklen Geschäften. Die Zwillinge wuchsen getrennt auf, sie sind einander fremd. Er leide unter Burn-out, schreibt Max, und lebe zur Zeit in einer luxuriösen Reha-Klinik tief in den Alpen. Name der Ortschaft: Himmelstal. Besuch erbeten; er, Max, trage alle Kosten.

Daniel fliegt zum Bruder in die Schweiz, er will das Treffen zügig absolvieren und dann weiterreisen, sich erholen. Doch aus ein paar Stunden in der Klinik werden Wochen, Monate. Denn Max verschwindet (er taucht ab in Mafiakreise), und Daniel wird an Max' Stelle im »Paradies« festgehalten.

Ja, Himmelstal wandelt sich zur Hölle. Felswände, dunkler Tann, keine Verbindung zur Außenwelt. Schlagbäume, Stromzäune, Wächter mit Waffen. Eine unterirdische Anlage, »Katakomben« genannt - sie ist illegaler OP-Trakt und Geheimgefängnis. Experimente mit Hirnsonden, Chips im Kopf, mit Folter. Wer nicht pariert - egal ob Patient, Wärter oder Arzt -, den lässt der deutsche Klinikleiter ermorden. So ein Rebell verschwindet einfach, gilt als geflohen oder »verlegt«.

Was steckt hinter dem Wahn? Die Wissenschaft. Klinikleiter Fischer und sein Team, »die Speerspitze der Neuropsychiatrie«, erforschen mit Geldern der CIA das Wesen von Psychopathen. Die Supermacht USA wünscht für ihre nächsten Kriege empathielose Killer, gezähmte Bestien. Dr. Fischer, selbst ein Psychopath, will noch mehr: den rundum glücklichen, weil gefühlskalten Menschen. »Das Unglück der meisten Menschen ist, dass sie mehr Gefühle haben, als sie brauchen. Schuld ist die Ursache für Leiden, Leiden ist die Ursache für Schuld. Das ist ein ewiger Kreislauf. Ich sage: Brich ihn! Nimm die Schuld weg.« Die Opfer unter Probanden und Kollegen weiß der Doktor zu begründen. »Manchmal geht das Wohl der Allgemeinheit vor.«

Eine schräge Story? Gewiss. Die schwedische Thriller-Autorin Marie Hermanson, Jahrgang 1956, bündelt viele Schrecken unserer Zeit. Der Leser hat Assoziationen: an Straflager, Dr. Mengele, die KZ-Sprache, an Milgrams Folterversuche der Sechziger und Orwells »1984«, an die Colonia Dignidad und Guantánamo. Lohnt die Lektüre? Allemal. »Himmelstal« verheißt Spannung, weil Wesen und Motive vieler Protagonisten lange im Dunkeln bleiben. Weil die Autorin die Schraube des Schreckens immer stärker anzieht. Weil ein hübscher Kontrast entsteht zwischen der Postkarten-Schweiz und der Schweiz des Romans. Warum musste gerade die Muster-Demokratie herhalten als Versuchsfeld? »Für mich ist die Schweiz ein geheimnisvolles Land«, sagt die Autorin in einem Interview mit der Übersetzerin. »Die saubere Alpenluft, die schmucken Häuser mit den Geranien am Balkon, die kleinen Eisenbahnen, die so pünktlich fahren ... alles ist so perfekt und ordentlich, dass es schon wieder beängstigend ist.«

Hat das Buch auch Schwächen? Hat es. Der Themenmix, diese Melange aus Scheußlichkeiten ermüdet irgendwann, das Happy End irritiert, die Figuren bleiben blass. Und der Text wirkt stark gebläht, im Ganzen wie im sprachlichen Detail. Wer diese Mängel großzügig übersieht, wird gut unterhalten. Am Ende bekommt der Leser gar eine Lehre mit auf den Weg: Siehe, so unbemerkt wie in Himmelstal kann das Ideal einer freien Gesellschaft kippen in Terror und Tyrannei.

Marie Hermanson: Himmelstal. Roman. Aus dem Schwedischen von Regine Elsässer. Insel Verlag. 428 S., brosch., 14,99 €.

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