Zur Freiheit gehört die Angst

US-Filmregisseur Martin Scorsese ist 70

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Es gibt nichts, was einen Charakter festlegt und zureichend bestimmt. Man ist nicht eindeutig der und der, man weiß nicht wirklich um die eigene Identität. Um zu wissen, wer man ist, muss man sich entscheiden und handeln; was zu lernen wäre, lernen wir nicht vor, sondern während der Prüfung. Und jede Prüfung ist Neuland, auch wenn wir uns abzusichern suchen mit Weltbildern, Anschauungsgrundsätzen, Prinzipien, Gewohnheiten. In jedem Menschen existiert so viel Unbestimmtheit, wie nötig ist, um ihn in das Abenteuer der Freiheit zu verwickeln.

Und diese Freiheit - eines Handelns, das heute so und morgen so sein kann - macht den Menschen letztlich ungreifbar; sie bringt Ungewissheit und Unberechenbarkeit in alle Verhältnisse. Freiheit verstrickt den Menschen in des Lebens Fremde, das ist ihr Reiz, das ist ihr Fluch. Sie soll nach dem Willen des Sehnenden und Strebenden Befreiung sein, aber der sich frei Wähnende und Schaufelnde trifft dabei auf das Böse: die Angst.

Gestalten in Filmen von Martin Scorsese sind genau von dieser Angst durchbohrt. Polizeibeamte, verdeckte Ermittler, Obsessive aller Art, müde, martialische, meisterhaft schmierige Mafiosi (»Gangs of New York«, »Goodfellas«, »Departed - Unter Feinden« - nach sechs Nominierungen 2006 endlich der erste »Oscar«). Angst schmiedet mystische Allianzen zwischen Protagonisten des Angriffs und des Gegenangriffs. Und immer ist die Angst just im Augenblick der gefühlten Freiheit am größten, schlägt in Gewalt um und löst den dämonischen Effekt aus: Gewalt, dieser Befreiungsschlag, richtet sich auch gegen den, der zum (meist rächenden) Täter wird.

Der »Taxi Driver« Trevis etwa, der daheim vorm Spiegel die Pistole zieht, auf ein imaginäres Ziel zielt, auf ein Herz, auf einen Kopf - er zielt auch auf sich selbst. Die Spiegelprobe: als agiere der blinde Seher Teiresias, als gespensteten Macbeth' Hexen, als flüsterte die Sorge das in Fausts Ohr, was er nicht hören will: Verhängnis. Schwäche gebiert Stärkefantasien, die besorgen sich Waffen, die produzieren Schuld, und Verbrechen bringt Strafe. Der ohnmächtig Ausgelieferte wird zum entschlossenen Mörder, wie Woyzeck zum Mörder wurde, endlich freies Handeln!, aber es ist am Ende doch nur die Hinrichtung seiner selbst.

New Yorks Little Italy: Scorseses frühe Lebensschule zwischen aufgezwungener Wildheit und ersehnter Mönchswürde, »ich musste sie wegwischen, diese Zeit, um noch atmen zu können«. Er wischte weg, er mordete Vergangenheit, indem er sie filmte: Elend und Ekelgrund. In genau der Distanz, welche die Bilder brauchten, um als Bloßstellung gelten zu dürfen - ohne dabei kalt zu werden. Kunst! Bilder: brutal, aber dennoch zärtlich; intim und trotzdem von einem gnadenlosen: Da, seht! In »Mean Street« (»Hexenkessel«) und »Taxi Driver« trat Scorsese sogar selber kurz auf, jeweils als Mörder, als zeige er sich selber vor aller Welt für die Folgen an, die es haben muss, wenn einer im Höllenteil New Yorks aufwächst. Der Regisseur als Unschuldiger, der aber hinein will in den Strudel der Schuld - um ihm mit einem Filmwerk zu entkommen. Scorsese ist der unerbittliche, unsentimentale, präzise Antiromantiker eines sich im Ethikauftrag wähnenden Gewaltkinos. Weswegen er keiner für Hollywood werden konnte, nie einer aus Hollywood wurde.

Mit »Taxi Driver« begann er seine alternativ leuchtende internationale Laufbahn, wie Robert De Niro, Jodie Foster und Drehbuchautor Paul Schrader. Und mehrfach wird Scorsese mit Kameramann Michael Ballhaus arbeiten, es wird hier und da der Braunton des Verwischens die Filme streifen, und so, wie Scorseses Mitwirkung in eigenen Filmen an Hitchcocks kleinen Spleen erinnert, sich im eigenen Film sichtbar zu verbergen, so wird der Regisseur Scorsese mit nahezu enzyklopädischer Instinkthaftigkeit immer wieder durch die Filmgeschichte gehen, staunend, wunderglücklich, und im Aufbau, in der Beleuchtung seiner Werke, in musikalischen wie Geräuschakzenten wird er kleinste stimmige und listige Hommagen setzen.

Robert De Niro (legendäre Boxerwucht in »Raging Bull - Wie ein wilder Stier«, Spielcasino-Boss in »Casino«) war lange Zeit der Fetisch des Regisseurs, um immer wieder neu zu erzählen: Kino ist Menschenfraß, um Menschen zu schaffen; es ist die Illusion, die in uns tobt, und sie darf's, denn wir sind süchtig nach Welten, die es nicht gibt - Illusion als Verführung, der wir genau das verzeihen, was wir der Hoffnung nie vergeben würden: die Lüge. Dafür hat sich Robert De Niro fett gefressen, ausgehungert, faltig gezehrt, im Übergewicht gesuhlt. Immer weiter gesteigerte Unkenntlichkeiten für die Kenntlichkeit: Verwandlung als fortwährende Neugeburt im Dienste erbarmungsloser Untergänge.

Besonders »Wie ein wilder Stier« wurde 1980 zum faszinierenden Opus lichtgeblendeter, von Scheinwerfern zerfetzter Durchsetzungskraft. Erfolg als Drecksarbeit. Vitalität als Widerstand gegen die Verachtung. Robert De Niro als Boxer Jake LaMotta; Zeitraffer und Zeitlupe und Stakkato-Schnitt erschaffen den atemberaubenden Rhythmus für einen Film, in dem besagte Angst und der rabiate Ausbruch, die Freiheit des vernichtenden Schlages und die Not, dafür einen Körper auszubilden, eine beklemmend drastische Spannung bilden.

Was dem Regisseur einst De Niro war, das erfüllt inzwischen Leonardo DiCaprio, nicht in so kraftraubender Konsequenz der äußeren Ver-Formung, aber mit einem inneren Glühen für die Auslöschung und mit innerer Fahlheit für den möglich zwielichtigsten Glanz. »Wenn De Niro Scorseses geisterhafter Doppelgänger war, so ist DiCaprio sein geisterhafter Sohn«, schrieb der US-amerikanische Schriftsteller Jerome Charyn.

Im schattenländischen Thriller »Shutter Island« - Geistersuche auf einer Geisterinsel mit einem Hospital für geistesgestörte Kriminelle -, da gewinnt Leonardo DiCaprio bislang am stärksten jene faszinierende Kraft, sich in einer Rolle so aufzulösen, wie es einst De Niro in Scorseses Werk zur Perfektion brachte.

Dokumentarfilme über das internationale Kino hat Scorsese gedreht, über Bob Dylan, George Harrison, Giorgio Armani, seine rauschbeseelte Liebe zur Filmgeschichte formte er zu einem Internet-Klassiker der Kinowerbung: »The Key of Riserva«, eine wunderbare Ironieübung rund um den bereits erwähnten Hitchcock und andere Meister des Suspense-Genies. Auf den ersten Blick ist sein Film über ein Konzert der Rolling Stones, »Shine a Light«, nun ja, ein Film über ein Konzert der Rolling Stones, aber in der Unmittelbarkeit der vibrierenden Szene porträtiert Scorsese den Moment, da der Expressionismus über den Menschen hinwegsteigt; wäre der gewählte Konzertraum eine Kirche, so dürfte man sagen, es sei ein Kultraum, wo die Offenbarung des Sprengstoffs (hier: einer originären Musik im Blut einer höchst lebendigen Zombie-Band) gefeiert werde.

Stets bleibt dieser Meister emphatisch beim Menschen, sein Kino kapituliert nicht vor jener kinematografischen Gewalt, die menschliche Akteure maschinendevot übergeht und inzwischen fortwährend Tat ohne Täter, Fahrten ohne Fahrer, Kriege ohne fühlende Krieger zeugt. Ob De Niro oder DiCaprio, ob Harvey Keitel, Daniel Day-Lewis, Matt Damon, Nick Nolte, Paul Newman, Jack Nicholson: Was sie in Scorseses Filmen an Charakteren, an Typen aufbauen - es sind Geborstene zwischen Penthouse-Himmel und Blutlachen auf schmutzigen Fabrikhöfen. Oder hinter den Shutter-Island-Nebeln vor sturmzerzauster See. Selbst der Christus, der dem Kreuz entflieht (»Die letzte Versuchung Christi«): ein Zerrissener.

»Ihr, von denen das Sein leise sein großes Gesicht wegwandte«, heißt es bei Rilke, und von der abgewandten Seite des Seins werden sie alle beschattet. Irgend eine Kraft, die mit dem Bösen einen Gesellschaftsvertrag abschloss, hat sie weggeschenkt ans Nichts. Weggeschenkt ist grausamer als weggestoßen.

Am heutigen Sonnabend wird Martin Scorsese - der 1942 als Sohn eines italienischen Textilarbeiters in New York geboren wurde, der Priester werden wollte, der jüngst mit »Hugo Cabret« seinen ersten Familienfilm drehte, eine Hommage an die Kindheit des Kinos - 70 Jahre alt.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal