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Der Herr der Ziegen-Songs

»Unendlichkeit« von Gabriel Josipovici - ein Musikerleben

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 3 Min.

Dies ist ein Rätselbuch, gedacht für alle, die bereit sind, sich ins Dickicht moderner Klänge und Irritationen locken zu lassen, wozu nicht unwesentlich der Klappentext beiträgt. Aber lassen wir zunächst den großen italienischen Komponisten Tancredo Pavone sprechen: »Ein Komponist, sagte er, der die Zeit hat, das zu tun, was er am besten kann, nämlich komponieren, ist der glücklichste Mensch überhaupt ... Jede Note ist eine Welt ... Jeder Klang ein Universum ... Ich hatte Glück, sagte er ... , dass das einzige, für das ich mich wirklich interessiert habe, die Frauen und die Musik waren.«

Herr Tancredo Pavone hätte sich wahrhaftig glücklich preisen und zum Lebensende hin, überdrüssig lästiger Zeitungsreporter und eitler Kollegen, von der Welt in sein Haus über dem Forum Romanum zurückziehen können, war er doch auf mancherlei Umwegen in die himmlischen Sphären universeller Klänge gelangt. Die Liebe schöner Frauen hatte er schon vorher bis zur Neige ausgekostet. Zum Begräbnis von Mr. Pavone, so lesen wir am Ende, folgten Richter, Kardinäle und sizilianische Adlige dem Sarg. Aber das hätte ihn nur noch mäßig interessiert. Er hatte seine Musik nicht für die Gegenwart, sondern für die Ewigkeit geschrieben.

Von Tancredo Pavone erfahren wir durch seinen Butler und Chauffeur Massimo. Der war in den letzten Jahren sehr oft mit ihm von Rom aus in die Campagna gefahren. Manchmal hatten sie dann angehalten und der Stille und den Zikaden gelauscht. Beim Fahren sprach Pavone über sein zurückliegendes Leben, manchmal gab er auch böse Urteile über die komponierende Zunft von sich. In einer endlosen Suada erzählt nun wiederum Massimo - nur selten von einem anonymen Frager unterbrochen - die Lebensgeschichte seines früheren Herrn. Dabei erscheint die an Begegnungen reiche Lebenszeit Pavones wie eine Endlosschleife und schrumpft dabei wie ein Chagrinleder zu einem einzigen unendlichen Augenblick, einem einzigen Ton. Das verwundert nicht. Schließlich hatte der Komponist in einer Lebenskrise »Six Sixty-Six« (666 mal dieselbe Note auf dem Klavier anzuschlagen!) und wenig später »Vier Stücke für einen Ton« geschrieben.

Massimo erzählt also: Als Sohn sizilianischer Aristokraten zu Beginn des 20. Jahrhunderts geboren, hatte Tancredo seine Musik-»Karriere« schon als Dreijähriger begonnen, indem er im elterlichen Haus wild auf das Klavier einschlug. Der begabte Jüngling verließ das Elternhaus und ging nach Monte Carlo, wo er in den Casinos brillierte. In London heiratete er eine bildschöne Verwandte der königlichen Familie. In Wien studierte er bei einem gewissen Scheler und bei Schönberg Komposition. 1945 entfloh ihm seine Frau, was ihn zuerst in ein Schweizer Irrenhaus, sprich: Sanatorium, und dann nach Paris führte. Dort wohnte er eine Weile bei Henri Michaux und dessen Katze. Den musikalischen Durchbruch brachte ihm aber nicht die Begegnung mit den Surrealisten, sondern ein Trip zu Nepals Klöstern. Deren Klangwelten bereicherten fortan seine Kompositionen. Darunter müssen auf jeden Fall noch die »Goat Songs« (»Ziegengesänge«) erwähnt werden, die er für Mitsuko Kakano schrieb und die ihn weltbekannt machten.

Wie aber liest man das an ltalo Calvinos doppelbödige Erzählungen erinnernde Buch? Im ersten Teil sammelt man Anhaltspunkte, wer sich hinter diesem Pavone verbergen könnte, im zweiten konsultiert man nervös ein Musikerlexikon, da alle Verdachtspersonen von Pavone selbst namentlich abserviert werden. Schließlich aber gibt man die Suche auf und liest mit großem Vergnügen zu Ende. Das hat wohl der Übersetzer Markus Hinterhäuser (ab 2014 Leiter der Wiener Festwochen) bezweckt, indem er, was anzunehmen ist, das Büchlein für deutsche Leser entdeckt hat. Es ist eine Lektion in Sachen moderne Musik unter dem Motto: Nehmt es heiter, Freunde!

Gabriel Josipovici: Unendlichkeit. Die Geschichte eines Augenblicks. A. d. Engl. v. Markus Hinterhäuser. Verlag Jung und Jung. 176 S., geb., 20 €

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