Junge Herren im Parterre

In Stuttgart vermieten ältere Menschen Studierenden eine günstige Wohnung und bekommen dafür Hilfe

  • Gesa von Leesen
  • Lesedauer: 4 Min.

Viele ältere Menschen leben alleine in relativ großen Häusern, viele Studierende suchen verzweifelt bezahlbare Wohnungen. Diese beiden Gruppen zusammen zu bringen, ist das Ziel des Programms »Wohnen für Hilfe«, das vom Stuttgarter Sozialamt und Studentenwerk getragen wird. Die Idee: Gegen günstige Miete helfen die jungen Leute den Älteren im Haushalt.

Das Konzept ist einfach und gerade im Raum Stuttgart, der bekanntlich viele wohlhabende Menschen mit Wohneigentum beherbergt, müsste es eigentlich viele ältere Herrschaften geben, die sich über Hilfe im Haus freuen würden. Aber leider muss der Verantwortliche für das Projekt, Harald Habich vom Sozialamt Stuttgart konstatieren: »Wir haben gerade mal sieben Ältere, die mitmachen.« Diejenigen aber, die sich entschlossen haben, Studierende aufzunehmen, sind angetan. »Es ist wunderbar, junge Leute im Haus zu haben«, schwärmt Annemarie Wohlfahrt.

»Bruchbude« saniert

Sie, 84 Jahre alt, und ihr Mann Günther, 90, wohnen am Bopser – eine Villengegend in Halbhöhenlage. Ihr dreistöckiges Haus liegt direkt am Bopserwald, im obersten Stock ragt ein kleines Türmchen in den Himmel – hier ist das Wohnzimmer der Wohlfahrts untergebracht. Durch die großen Fenster bietet sich ein grandioser Blick über die Stadt. Drinnen gibt es am großen runden Tisch Espresso, die Wände sind geschmückt mit Ölgemälden und Aquarellen. Im Regal stehen Bücher und Reiseandenken: geschnitzte Elefanten, ägyptische Götter. »Wir waren früher viel auf Seefahrten, also, bevor das mit diesen riesigen Kreuzfahrtschiffen los ging«, erzählt Günther Wohlfahrt, der einst Leiter der baden-württembergischen Bürgschaftsbank war. Seine Frau ist in diesem Haus geboren. »Du hast eingeheiratet«, neckt sie ihren Mann. Er kontert: »Und saniert.« »Ja, das war eine Bruchbude.«

Vier Parteien leben in dem alten Haus, ganz unten Hannes Bitterling und Lukas Gerstweiler, die beiden Studenten. Im Februar vorigen Jahres sind sie eingezogen, wohnen jetzt also fast ein Jahr bei den Wohlfahrts. Damals war die frühere Hausmeisterwohnung – zwei Zimmer, Küche, Bad – frei geworden. »Ich hatte von dem Projekt in der Zeitung gelesen und fand das gut«, so Annemarie Wohlfahrth.

Zwar ist sie noch recht fit, doch hier oben am Hang ist der Alltag recht beschwerlich, wenn die Kräfte nachlassen: viele Treppen, steile Aufstiege – schwere Einkaufstüten sind hier eine Qual. »Das machen die Jungs mit unserem Auto«, berichtet die Dame, die von sich sagt: »Ich bin eine Studentenmutter.« Sie gibt den beiden sogar ihre EC-Karte mit: »Das wundert viele, aber ich vertraue den zweien und es funktioniert.« Außerdem erledigen die Studenten die Wäsche, weil Waschmaschine und Trockner im Keller stehen, schippen Schnee und helfen im Notfall.

»Wenn ich eine SMS mit SOS schicke, wissen sie: Es ist dringend«, erzählt Annemarie Wohlfarth. Zum Beispiel wenn ihr Mann hingefallen ist und sie ihm nicht alleine wieder hoch helfen kann. Günther Wohlfarth läuft nicht mehr so gut, braucht Stock oder Rollator. Auch er findet es erfrischend, die Studenten im Haus zu haben: »Da bekommt man einfach mehr mit von den jungen Leuten heute.« Seine Frau ergänzt: »Es ist doch besser, junge Leute im Haus zu haben als nur alte, die ständig nur über Krankheiten reden.«

Vermittelt hat die beiden jungen Männer Harald Habich erzählt das Ehepaar. »Er kam mit Unterlagen einiger Bewerber, da haben wir Hannes und Lukas ausgesucht.« Die beiden jungen Männer, die aus Bad Boll beziehungsweise Heidelberg kommen, stellten sich vor – und man verstand sich.

Kein Enkelersatz

»Es klappt hervorragend«, erzählen die Jungs, die an der Universität Hohenheim Lebensmittelwissenschaft und Biotechnologie studieren. »Die Wohlfahrts sind ja beide supernett und weltoffen«, so Lukas Gerstweiler. Außerdem sei es sehr angenehm, als Neuer in Stuttgart Ansprechpartner zu haben, die einem Tipps geben und sich auskennen: »Arzt, Einkaufen, all so was.« Manchmal trinke man auch Kaffee miteinander und die Wohlfahrts erzählen von Stuttgart nach dem Krieg. »Das ist eine Bereicherung«, so Hannes Bitterling.

Wichtig ist allen, dass jeder Part die Privatsphäre des anderen achtet. »Nein, wir sind kein Kind- oder Enkelersatz für die beiden«, sagt Hannes. Und die Wohlfahrts stimmen zu. »Mit den Studenten umzugehen ist für uns viel einfacher, als mit den eigenen Enkeln. Die will man immer erziehen, das kommt uns bei Hannes und Lukas überhaupt nicht in den Sinn«, sagt Annemarie Wohlfarth überzeugt.

www.wohnenfuerhilfe.info

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