Länger leben

Wie man pharmakritische Informationen unter die Leute bringt

  • Ulrike Gramann
  • Lesedauer: 7 Min.

Am Anfang dieser Geschichte steht Ärger, nicht Angst. Dabei geht es um Arzneimittel, da gibt es viele Wörter, die Angst machen, wie Pharmaindustrie, Nebenwirkung, Skan- dal, Pharmalobby, selbst schöne hinterlassen ein mulmiges Gefühl: Hoffnung, zum Beispiel.

Also der Ärger, den hat der zwanzigjährige Wolfgang Becker-Brüser im Gepäck, als er 1969 von Essen nach Berlin kommt, um Pharmazie zu studieren. Der Ärger stammt aus seinem Apothekenpraktikum. Ärgerlich ist die intransparente, nicht einmal für Apotheker nachvollziehbare Deklaration der Arzneien. Mal so, mal so werden die Wirkstoffe bezeichnet, ganze Listen hat der Praktikant angelegt und darin die unterschiedlichen Namen von Arzneimitteln mit gleichen Wirkstoffen gesammelt. Weil ihm dabei auch die verschiedenen Preise letztlich identischer Arzneien aufgefallen sind, hat er seiner Oma eines Tages ein Medikament gebracht, das anders heißt und billiger ist als das gewohnte, aber den gleichen Wirkstoff hat. Es hilft nicht so gut, sagt sie. Was wirkt da noch? Zum Ärger kommt Neugier.

In den 1960er Jahren, sagt der damalige Praktikant heute, habe eine »grundsätzliche Naivität« geherrscht. Ein Bewusstsein, dass Medikamente nicht nur positiv wirken und man dem, was Ärzte sagen, kritisch gegenüberstehen sollte, habe praktisch nicht existiert. Was Medikamentenhersteller als Information verbreiteten, sei quasi Werbung gewesen. Zugleich kommt es zu großen Arzneimittelskandalen, zuerst um das Beruhigungsmittel Contergan, dann um den heute weniger bekannten Appetitzügler Menocil. Er löst Lungenbluthochdruck aus, eine lebensbedrohliche, oft tödliche Krankheit. Mindestens 850 Menschen sind in der Bundesrepublik betroffen, vor allem junge Frauen. Sie hofften, schlank zu werden.

1969 tauchen beim Deutschen Ärztetag plötzlich Flugblätter eines Unabhängigen Arbeitskreises Arzneimittelpolitik auf, Titel: »Informationen für den Arzt«, Inhalt: Gegeninformation. Aufgestörte Industrievertreter drohen mit Prozessen. Manche Ärzte aber reagieren interessiert, diskutieren, weisen die Aktivisten, meist junge Ärzte und Studierende, auf irreführende Pharma-Werbung hin. So beginnt ein Aufklärungsprojekt. Becker-Brüser: »Es entstand aus der Unzufriedenheit, dass man keine hilfreichen Informationen über Arzneimittel bekam, weder von der Industrie noch von den Ärzte- und Apothekerverbänden.« Auf die Flugblätter folgt 1970 die Zeitschrift »arznei-telegramm«, kurz a-t. »Eher holzschnittartig und provozierend«, nennt der heutige Verleger und Redakteur die Texte der Anfangszeit, »und dringend notwendig!« Nach der Pharmazie hat er Medizin studiert und Mitte der 1970er Jahre den ersten Teilzeitjob beim a-t bekommen. Er zeigt ein »Transparenz-Telegramm« aus dieser ersten Zeit, in dem Preise von Arzneimitteln gleicher Zusammensetzung verglichen werden. Dass der Setzer, lange vor Computerzeiten, über der kleinteiligen grafischen Darstellung schier verrückt wurde, war noch das Geringste. Man warf der Zeitschrift vor, das gesetzliche Verbot vergleichender Werbung zu unterlaufen. Die Post verweigerte den ermäßigten Versand, weil es sich um eine Preisliste handele. Manche sagten schlicht: »Ihr kriegt doch euer Geld aus dem Osten.«

Arzneien sollen nützen, nicht schaden

2012, Berlin-Steglitz: Bei der A.T.I. Arzneimittelinformation Berlin GmbH arbeiten 18 Menschen in Voll- und Teilzeit. Sie tun es an einem der schönsten Arbeitsplätze Berlins, auf dem Friedhof Bergstraße, in einem fast hundertjährigen Wasserturm aus weithin leuchtenden Ziegeln. Hier erscheinen einmal im Monat die dicht bedruckten Blätter des a-t, ohne bunte Bilder, ohne Werbung, reduziert auf Information, satt von Fachwortschatz und ausschließlich finanziert durch Abos. Gemessen an bezahlten Abos ist das a-t die größte deutschsprachige Medizinzeitschrift.

ÄrztInnen lesen sie, ApothekerInnen, auch manche Pharmaunternehmen. Das ist die Zielgruppe, lauter Leute, die dafür sorgen sollen, dass Arzneien nützen und nicht schaden. Die Zulassungsstudien bei Einführung eines Medikaments hätten zu wenige Teilnehmer, kritisiert Becker-Brüser, in der Regel überdurchschnittlich viele Männer. Geprüft würden oft nur »Surrogatparameter« wie Blutzucker- oder Blutfettwerte. Aber prüft nicht auch die Hausärztin genau diese Werte? »Der Wert sagt nicht viel über den Behandlungserfolg«, meint er. Es gehe darum, dass Menschen weniger Folgeerkrankungen bekämen, län- ger leben letztlich. »Es gibt Mittel, die senken zwar die Blutfettwerte, aber die Menschen sterben dennoch früher.« Viele Menschen würden gar keine Blutfettsenker, Bluthochdruckmittel oder Diabetes-Tabletten brauchen, wenn sie sich anders ernähren und mehr bewegen würden. Das leuchtet ein. Das tut weh, auch den Patienten, aber vor allem dem Hersteller, der Medikamente verkaufen will, und der Ärztin, die ebenfalls weniger verdient, wenn sie statt flotter Rezeptverordnung mit den Kranken über ihre Lebensweise spricht und darüber, was in Beruf, Familie und Politik den Blutdruck steigen lässt.

Becker-Brüser will kein Bilderstürmer sein: »Wir lehnen Arzneimittel nicht ab, sie müssen sinnvoll eingesetzt werden.« Im Idealfall helfen dabei »randomisierte, kontrollierte Studien«, Studien also, in denen mögliche Einflussfaktoren in jeder Vergleichsgruppe gleichmäßig verteilt sind. Gibt es in der einen Gruppe 10 Prozent Raucher und 15 Prozent Sportlerinnen, muss es in der anderen auch so sein. Und immer die ganze Studie lesen, nicht bloß das Fazit! Welcher Arzt hat so viel Zeit?

Schreiben, was Hand und Fuß hat

Darum wertet die achtköpfige a-t-Redaktion regelmäßig rund 70 Fachzeitschriften aus, nutzt zusätzlich Bibliotheken und Internet. Über 40 000 Arzneimittel sind in Deutschland zugelassen. In der Zählweise der Hersteller sind es »nur« 8000, auch das eine hohe Zahl. So viele Neuheiten, wie man aufgrund der Werbung erwarten mag, sind freilich nicht dabei. Es ist billiger, »Me-too-Präparate« auf den Markt zu bringen, die ein bekanntes Prinzip abwandeln, eventuell mit anderen, sogar schwereren Nebenwirkungen. Oder es werden neue Anwendungen für bekannte Wirkstoffe ge- und erfunden. Beispiel »Pille«: Zuerst sollte sie Schwangerschaften verhüten, heute soll sie auch Haare und Haut schön machen oder das Gewicht senken. Doch wenn eine Frau mittels Pille 200 Gramm weniger wiege, sei das für ihre Gesundheit egal, erklärt Becker-Brüser. Nicht egal sei, wenn mit dieser Pille das Thromboserisiko steige. Über solche Themen zu berichten, hat Nebenwirkungen: Viele Gynäkologen kündigten schon vor Jahren ihre Abos, zumal nach Berichten über die großen Hormonstudien, die Risiken der »Hormonersatztherapie« in den Wechseljahren belegten. Klar, wenn gesunde Frauen keine Hormone einnehmen, kommen sie auch nicht jedes Quartal in die Praxis.

Im Zweifel würde das a-t es auf einen Prozess ankommen lassen. Der letzte Rechtsstreit, den ein Pharmaunternehmen anstrengte, liegt Jahrzehnte zurück, wie lange, weiß auch Becker-Brüser nicht auf Anhieb, länger als er verantwortlicher Redakteur ist jedenfalls, und das ist er seit 1996. »Wir haben gelernt, sauber zu arbeiten, Quellen korrekt zu bewerten und zu zitieren. In der Pharmaindustrie ist angekommen, dass, was wir schreiben, Hand und Fuß hat. Auch die haben gelernt, geben mehr Informationen und finden dennoch genug Wege, ihre Produkte zu verkaufen.«

Gehört Bestechung dazu? Hierzulande nicht mehr so offen, meint er. Früher seien Ärzte zu Kongressen eingeladen worden, am besten mit Ehefrau und in schöne Gegenden. Heute würden eher »Marktforschungsseminare« veranstaltet, mit vielleicht 200 Euro für die Teilnahme. Noch problematischer findet er Vorträge von Wissenschaftlern bei Symposien, in denen sie die Ansichten von Pharmaunternehmen wiedergeben. Zudem würden die Unternehmen statt wie früher von Pharmazeuten oder Medizinern heute von Betriebswirten geleitet, die mehr an ihre Aktionäre denken als an die Nöte der Kranken. Gegeninformation bleibt gefragt, auch für Laien. An sie richtet sich die Zeitschrift »Gute Pillen - Schlechte Pillen«, ein Gemeinschaftsprojekt von fünf Zeitschriften, darunter a-t.

Turm ist nicht aus Elfenbein

An einem Sonnabendvormittag Anfang Dezember eilen Menschen Richtung Turm, ohne die frühwinterlich melancholische Stimmung auf dem Friedhof zu würdigen. Dicht reichen die Gräber an den expressionistischen Bau heran, der viele Jahrzehnte wenig genutzt wurde, als Wasserspeicher nie. Die Rettung des ruinösen Gebäudes »verdanken wir unserem Herrn Becker-Brüser«, erzählt ein älterer Steglitzer ungefragt, begeistert.

Tatsächlich fand der Bezirk im A.T.I. Verlag einen Nutzer, der einen großen Kredit aufnahm und den Turm innen liebevoll restaurierte. Die Außenarbeiten übernahm der Bezirk. Als der Heimatforscher Wolfgang Holtz die Verlagsmitarbeiter beim Einzug 2000 über den Friedhof führte, mündete das in freundliche Zusammenarbeit. Ein wenig kurios ist es schon, dass in einem medizinischen Verlag nun auch heimatgeschichtliche Bücher erscheinen. An diesem Tag wird das neueste vorgestellt, über das Stadtparkviertel. Eine echte Fangemeinde hat die Stühle in der Rotunde besetzt bis auf den letzten, man kennt sich mit Namen.

Becker-Brüser, groß gewachsen eigentlich, wirkt ein wenig zusammengefaltet neben den Buchautoren. Er strahlt. Der Ärger von einst ist nicht zu sehen, die Neugier schon. »Wir machen kein Blatt für die positive Botschaft, sondern für das, was man anderswo nicht findet«, hat er gesagt. Also für Information mit Akribie und Gelassenheit.

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