Wenn der Sinn des Lebens verloren ist

Zweimal Kunst aus Russland in London

  • Anita Wünschmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Galerie Saatchi, seit wenigen Jahren im noblen Chelsea ansässig und umgeben von vielerlei Shoppingmöglichkeiten speziell auch für junge Leute, vermochte immer ihr Publikum in Atem zu halten, wenn nicht gar, wie gleich zu Beginn in den 90er Jahren mit der Schau »New British Artist«, zu schockieren. Und auch diesmal werden die Nerven nicht geschont.

Saatchi zeigt zwei visuell reiche Russland-Kunstschauen, die je einen eigenen Raumbereich beanspruchen und doch miteinander korrespondieren. Gegenwartskunst aus der eigenen Sammlung (»New Art from Russia«) tritt in einen Dialog mit der einst inoffiziellen Kunst aus den 1960er/80er Jahren (»Breaking the Ice: Moscow Art«, 200 Werke aus der Tsukanov Family Foundation).

Russland - das ist unbestritten ein vielseitiges und aufregendes Buch, nicht selten schwer zu lesen. Was hier im radikal modernisierten Duke-of-Lord-Palast aus dem Saatchi-Besitz gezeigt wird, das sind ganz gewiss die rauesten Seiten, das Schwerverdauliche und Traurige, aber es ist hervorragende Kunst! Ein ganz und gar aus einem ästhetischen Können her formuliertes Schockgefrieren der Gefühle. Wobei es im Übrigen zu eng gedacht wäre, wollte man die Inhalte der Bilder - nur weil es Russen sind, die sich zu Wort melden - allein auf dieses europäisch-asiatische Riesenland beziehen. (Parallel zeigt die Londoner National Gallery gerade sozialkritische Fotografien in altmeisterlicher Ästhetik des Britten Tom Hunter, der im Problemviertel Hackney die Alltagstragödien einfing.)

In beiden Fällen, aber vor allem bei Saatchi, sind es Bildereignisse - Installationen, Fotografien, Malerei, Collagen -, welche die tiefen Schatten repressiver Herrschaftsausübung beziehungsweise die »Kollateralschäden« der gigantischen Gesellschaftstransformation der Neunziger bis zur permanenten Krise seit 9/ 11 nachzeichnen. Sarkastischer und/ oder hautnaher Existenzialismus.

Etwa in der beunruhigenden Installation von Gosha Ostretsov »Criminal Government Cell/ 2008«. Man schaut in fünf Gefängniszellen hinein wie in einen Guckkasten (Madame Tussauds Gruselkabinett) und ein Mensch-Monstrum - versteckt hinter einer absurden Latexmaske, auch ganz Hollywood Style - existiert im Grau mit Pritsche und blutigen Inschriften oder dramatischen Verstümmelungen. Comicsprache und Horrorfilm! Wie auch immer, die Inszenierung zielt ins Epizentrum menschlicher Sensibilität. Sie vermag aber kaum Empathie hervorzurufen, eher Verstörung. Sie aktualisiert jene filmerprobte Mischung aus Gruselneugierde, Abscheu und Angsttagtraum.

Sergej Vasilevs Foto-Großporträts von tätowierten Gefangenen aus sowjetischen Gefängnissen (1983 - 1993) widmen sich ebenfalls dem Topos Macht und Freiheitsberaubung. Der 1937 in Tscheljabinsk geborene Künstler hat eine Bildenzyklopädie des Frustes, der Aggression und Melancholie zusammengestellt. Trotz der Sensation der abgelichteten »Geheimcodes« wird der Mensch sichtbar; sein Körper als letzter Ort, an dem die Auseinandersetzung mit der Welt ästhetisch funktioniert. Das Bild-Schrift-Vokabular ist sexistisch und sehnsuchtsvoll, hierarchisch und suggestiv, auf jeden Fall dicht besetzt.

Weiter geht es mit der Fotoserie »Nachbarn/ 1993« von Vikenti Nilin (geb. 1971 in Moskau), die, obwohl es so scheinen könnte, nichts mit Andreas Feiningers New Yorker Manhattan-Bauarbeitern zu tun hat, wenn man vom Schwarz-Weiß-Dokument eines schwindelerregenden Aufenthalts in großer Höhe absieht. Eine Frau sitzt auf dem Balkongeländer. Ein Rentner raucht auf der Fensterbrüstung. Die Konnotation: Einsamkeit, Tristesse, Kante, Abgrund. Der Tod scheint, wenn schon nicht einkalkuliert, dann zumindest leichtfertig hingenommen, weil der Sinn des Lebens abhanden gekommen ist.

Und schließlich der in Berlin und Charkow lebende (von Saatchi international bekannt gemachte) Ukrainer Boris Michailow, dem die Berlinische Galerie im vergangenem Februar eine Werkschau eingerichtet hatte. Hier hängen noch einmal die fast lebensgroßen Bildnisse der Obdachlosen und Alkoholabhängigen aus der Ende der 90er Jahre entstandenen Serie »Case History«. Das Licht ist anderswo.

Zart dagegen Yelena Popovas transparente, minimalistische Malerei auf Leinwand. Und fast spielerisch dekonstruktiv die Collagen von Valery Koshlyakov, der auf Wellpappe malt und die Ikonen europäischer Baukunst fragmentiert und in monumentalem Format wieder zusammensetzt.

Die Gegenüberstellung von »Lenin und Giacometti« (1990) bei Leonid Sokov: Pop und Moderne. Statt Bilderstürmerei ein pointierter Dialog. Eine beredte Begegnung, vergleichbar mit der Sammlungspräsentation »Der geteilte Himmel« in der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Diese Arbeit mag stellvertretend für die immerhin zweihundert Werke genannt sein, die die Facetten- und Stilvielfalt der sowjetischen Off-Kunst von Vladimir Veisbergs geometrischen Abstraktionen bis zur Sozart von Komar & Melamid dokumentieren und einmal mehr eine intensive künstlerische Auseinandersetzung mit der eigenen und der internationalen Avantgarde-Geschichte nachvollziehbar machen.

Saatchi Gallery, King's Road Chelsea, London: New Art from Russia, bis 5. Mai. Breaking the Ice 1960-1980, bis 23. Februar

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