Haftet Putin für Stalin?

Gerd Kaiser ist Autor von »Katyn. Das Staatsverbrechen - das Staatsgeheimnis«

  • Lesedauer: 3 Min.

nd: Sie sind der erste deutschsprachige Historiker, der auf Grundlage der Anfang der 90er Jahre von Moskau freigegebenen Akten ein Buch über Katyn geschrieben hat. Können Sie die neuerlichen Klagen der Angehörigen polnischer Opfer vor dem Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verstehen?
Kaiser: Ja, ich kann sie sehr gut verstehen. Dieser Ort bei Smolensk steht als Synonym für weitere Verbrechen, auch für die Mordstätten bei Twer und Charkow sowie andernorts. Insgesamt sind knapp 25 000 Gefangene aus den Sonderlagern in Kosjelsk, Ostaschkow und Starobjelsk erschossen worden. Es mussten fünf Jahrzehnte vergehen, bis eine erste halbherzige Lüftung des Staatsgeheimnisses durch Michail Gorbatschow und dann Boris Jelzin erfolgte. 1992 wurden die Akten zum Massenmord von polnischen und russischen Historikern erstmals einer größeren Öffentlichkeit übergeben. Die mehrbändige Quellenpublikation dokumentiert minutiös den Verlauf des Staatsverbrechens.

Im Februar 1943, vor 70 Jahren, wurden die Massengräber im Wald von Katyn von deutschen Wehrmachtssoldaten entdeckt ....
Nein, entdeckt wurden sie von polnischen Zwangsarbeitern, die in die NS-Organisation Todt gepresst worden sind.

Vermuten auch Sie, dass noch nicht die ganze Wahrheit über Katyn bekannt ist, wie in den jetzigen Klagen vorwurfsvoll an die Adresse Moskaus mitschwingt?
Ich denke, dass alle wesentlichen Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich sind. Die genannte Dokumentation umfasst mehr als 90 voluminöse Bände! Die Klage der Hinterbliebenen zielt meiner Kenntnis nach auf die Weigerung der russischen Militärstaatsanwaltschaft anzuerkennen, dass die Toten Opfer politischer Repressalien waren. Die Militäranwälte berufen sich auf formaljuristische Wortklaubereien. Es gäbe keine Beweise dafür, dass die Toten nach dem sowjetischen Strafgesetzbuch von 1926 erschossen worden seien, was nach einem Gesetz unter Jelzin Bedingung für eine Anerkennung als Opfer ist. Formal ist das korrekt, denn sie wurden auf Beschluss des Politbüros der KPdSU, unterzeichnet von Stalin, Berija, Molotow, Kaganowitsch, Woroschilow und sogar Mikojan, ermordet. Zudem wird argumentiert, der Begriff »Völkermord« sei erst 1948 in die UNO-Konvention aufgenommen worden. Und eine rückwirkende Anerkennung des Staatsverbrechens werde abgelehnt.

Moskau besteht auch darauf, dass das heutige Russland nicht für Verbrechen in der Sowjetunion verantwortlich gemacht werden könne. Teilen Sie diese Ansicht?
Es ist richtig, dass die Regierung der Russländischen Föderation nicht an dem Staatsverbrechen von 1940 beteiligt war. Meiner Ansicht nach ist jedoch eine deutliche Rücksichtnahme auf die Gefühle der Opfer angebracht. Dies ist eine Frage des Humanität, des Anstands und der Ehre. Und wäre hilfreich für eine grundlegende Verbesserung der Beziehungen zwischen den Völkern.

Es sind im Wald von Katyn nicht nur Polen erschossen worden.
Das ist eine historische Tatsache. Deshalb wird an diesem symbolischen Ort in einer würdigen Gedenkstätte zu Recht nicht nur der polnischen Opfer gedacht, sondern auch der hier ermordeten Russen, Juden und Muslime, wobei die Russen und Belorussen die größte Opfergruppe stellen.

Fragen: Karlen Vesper

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