Seelenverkäufer

Die Protagonisten der Schröderschen Agenda

  • Heinz Niemann
  • Lesedauer: 3 Min.

Wenige Monate nach seinem Rücktritt als Parteivorsitzender und Finanzminister versuchte Oskar Lafontaine in seinem Buch »Das Herz schlägt links« den für viele seiner Genossen völlig überraschenden und irritierenden Schritt zu erklären. Ein einziger Satz im Vorwort sagt eigentlich alles, verdeutlicht, was ihn antrieb und wahrscheinlich immer noch antreibt: »Vor allem darf die SPD ihre Seele nicht verkaufen.«

Mit seiner Agenda-Politik erscheint der damalige sozialdemokratische Kanzler Gerhard Schröder einigen SPD-Mitgliedern noch heute wie ein Deus ex machina, anderen wie ein Diabolos. Insofern ist es sehr verdienstvoll, dass Sebastian Nawrath sich einmal gründlich mit dem bereits unter Helmut Schmidt 1978 beginnenden Wandel in der deutschen Sozialdemokratie befasste und darstellt, wie sie sukzessive ihre Seele verkaufte. Der Autor verfolgte über einen Zeitraum von dreißig Jahren die wirtschafts- und sozialpolitischen Debatten, die schließlich zur Agenda 2010 führten. Das ist alles andere als nur noch von historischem Interesse oder höchstens eine Sache von Spezialisten. Denn einerseits zeigen sich zählebige Folgewirkungen in dem gerade anlaufenden Wahlkampf. Andererseits stellt sich vielen Menschen die Frage der Glaubwürdigkeit der SPD angesichts der zaghaften Distanzierung einiger führender Genossen von der Agenda, die dereinst zu den ideellen wie praktischen Mitwirkenden des Schröder-Kurses zählten.

Schon die erste Konfrontation des Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück mit der Kanzlerin im Bundestag im Oktober 2012 bestätigte die Diagnose, dass mit den alten Seelenverkäufern kein reeller Politikwechsel zu erwarten ist. Bei gelegentlichen Gastauftritten auf SPD-Veranstaltungen wird Alt-Kanzler Schröder stürmisch gefeiert. Man hört keine Widerworte zu seinem Urteil, das er der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« verriet: »Die deutsche Sozialdemokratie wäre heute die stärkste in Europa, wenn sie die Kraft gefunden hätte zu sagen: Die Agenda war richtig.« Wäre es nur Selbstbeweihräucherung eines Politikers mittels einer Realitätsverweigerung von Honeckers Ausmaßen - man könnte zur Tagesordnung übergehen. Aber Schröder spricht nur aus, was die Mehrheit der gegenwärtigen SPD-Spitze insgeheim denkt. In Wahlkampfreden versucht man die Hoffnung zu erwecken, es sei etwas passiert. Doch dem ist nicht so. Nawraths faktenreiche und Quellen gesättigte Studie belegt, wie sich der Agenda-Bazillus in der SPD ausbreitete und warum er sich als resistent erweisen dürfte. Er benennt jene Personen, die ihn züchteten und zeigt auf, welche Konsequenzen die mehr oder minder offene Adaptation der wirtschaftspolitischen Auffassungen des neoliberalen Mainstreams für die »alte Dame« SPD bedeutete und bedeutet. Dass er Lafontaine als einen zumindest recht lange Mitverantwortlichen haftbar zu machen versucht, mag manche verwundern. Seinen Kritikern sei da Lafontaines Bekenntnisbuch »Das Herz schlägt links« zur Lektüre empfohlen.

Für Nawrath ist es selbstverständlich, dass zwischen praktischer Politik und den sie begleitenden Debatten und dem jeweiligen Grundsatzprogramm stets Divergenzen bestanden und bestehen. Auch dies mögen andere anders beurteilen. Und bei aller Wertschätzung für die von ihm unternommene verdienstvolle Aufdeckung der Protagonisten der Agenda-Politik - Nawrath stößt nicht bis zu den aus der spätkapitalistischen Gesellschaft herrührenden objektiven Faktoren vor, die den ideologischen Mainstream der wirtschafts- und sozialpolitischen Diskurse sowie Forschung und Lehre determinieren und damit auch die öffentlichen Debatten dominieren.

Sebastian Nawrath: Agenda 2010 - Ein Überraschungscoup? Kontinuität und Wandel in den wirtschafts- und sozialpolitischen Programmdebatten der SPD seit 1982. J.H.W. Dietz. 320 S., geb., 32 €.

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