Trümmer der Ideen

Henning Ritters Essay über die zynische Beziehung zwischen Krieg, Terror - und Vernunft

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Mensch ist gut. Und das Böse - so immer und immer wieder geträumt - gilt demnach nur als traurige Abspaltung. So viele Belege können herangezogen werden für die Wahrheit dieser Annahme. Aber existieren nicht ebenso viele Beweise für das mögliche Beschwören vom Gegenteil? Gewalt und Grausamkeit als wesentliche Bewegungsart der Gattung durch die Zeiten? Mag die Menschheit heil- und ideenlos durch ihr Schicksal stolpern - einzig die Militärindustrie ist bei der Nachschubproduktion für Tötungstechniken stets planerisch schon bei der nächsten oder übernächsten Waffengeneration. Das Gute wäre unter diesem Aspekt die mühsam und jeweils nur kurz aus der Geschichte herausschlagbare Eigenart des Menschen. Flüchtig wie sonst nichts.

Henning Ritter blickt in die Historie, er hört »Die Schreie der Verwundeten«, er versucht sich an besagter Grausamkeit als Geschichtsmotor, und wahrlich muten die zweihundert Seiten seines Buches an, als könne dem Thema auf so kurzem Raum nur im Überblick auf eine Spur zu kommen sein. Aber dies ist nicht Grundriss, nicht Überblick, es ist Essay, großartiger Essay. Wer Ritters 2010 erschienene, so überaus feinsinnige »Notizhefte« gelesen hat, weiß um die Eleganz und die Tiefe, mit der dieser Autor mit den großen Franzosen lebt, mit Pascal und Montaigne, und des Autors geistiges Zentralgestirn ist das 18. Jahrhundert - weil es so viel vorwegnahm, was dann die Geschichte prägte. Vom 18. Jahrhundert aus reist Ritter durch die Kriege des 19., entwirft Biografien des Denkens mehrerer Philosophen zwischen Terror und Liberalismus. Ein einziges Säkulum nur wird betrachtet, aber es ist Pionier des kommend Bleibenden. Erschütternde Zeugenschaften des Krimkrieges, der Schlacht von Solferino, des amerikanischen Bürgerkrieges. Und welch zynische Logik: Die kriegerische Grausamkeit erlebte damals einen Höhepunkt, weil man meinte, die zivilisatorische Kraft breche endgültig durch - so wurde jede Schlacht in den Status des letzten Gefechts erhoben, in dem aus Gründen des unwiderruflichen Sieges der Aufklärung und also der Entschiedenheit, keine Umkehr zu dulden, das Schlimmste praktiziert wurde.

Begleitumstand dieser blutigen Absurdität: Das Internationale Rote Kreuz wurde gegründet, die Heilsarmee gebildet, Kriegskonventionen entstanden. Hatte Schopenhauer über den klaffenden Widerspruch zwischen Zivilisation und Mitleidsfähigkeit des Menschen geklagt, so antwortete das hysterisch erwachte Zeitalter der Grausamkeit mit einer großangelegten Ausweitung der Wohlfahrtsindustrie. Da nunmehr viel für Opfer getan wurde, erledigte sich der Auftrag, sie zu verhindern. Das ist der Zynismus der humanitären Hilfe.

Den Beginn des Buches hatte eine Szene aus Stendhals »Rot und Schwarz« gebildet. Ein Gespräch über den kalten seelischen Zustand der Zeit. Ritter: »Im neunzehnten Jahrhundert wollte man alle Dinge geschäftsmäßig erledigen, sogar bei den grausamsten Taten sollte sich der einzelne nicht die Hände schmutzig machen müssen. Mit der Formel ›Grausamkeit ohne Grausamkeit‹ gelang Stendhal eine bedeutende Prognose auf das Jahrhundert, das alles dem Nutzen unterordnen wird, dessen Kalkulationen die Leidenschaften verstummen lassen.«

Ritter muss das 20. Jahrhundert nicht nennen, um es aufzurufen. Grausamkeit ohne Grausamkeit, das heißt: Grausamkeit ohne Leidenschaft. Wo einem Weltgeist gedient wird, darf das Töten als Mittel zu einem Zwecke der Vernunft erklärt werden. Wo dem Gesetz der Geschichte zum Durchbruch verholfen wird, darf gesäubert, selektiert, vertrieben, hingerichtet werden, ohne dass sich die Täter selber etwas anderes als Pflichtgefühl und Auftragsdisziplin unterstellen müssen.

Ritter zeigt sehr genau, dass dies nicht bloß bösartige Abart eines ansonsten guten Menschenwesens ist - so lange nicht, solang ein Machtstreben existiert, das auf der Kanonisierung von Wahrheit gründet. Die Erfahrungen mit dem politischen Extremismus des 20. Jahrhunderts bedenkend, scheint es leicht zu sein, dies in den Fundus des Erledigten zu tun. Aber die Unerträglichkeit des Weltzustandes - birgt sie nicht neue verführerische Konflikte zwischen Exzess und Vorsicht? Nicht jeder empfand die Videobotschaften eines Osama Bin Laden als Horrorfilme. Und die Gier nach weltanschaulicher Einseitigkeit ist kaum erledigt.

Das ist nah am 1794 hingerichteten Robespierre, einem der Gründergeister des vernunftdiktierten Tötens. Ritter entwirft grandios ein Porträt des Revolutionärs, und es darf einem ein Klassiker des modernen Schauspiels in den Kopf kommen: Alexander Langs genialische Idee vor über drei Jahrzehnten am Deutschen Theater Berlin, Danton und Robespierre, in Büchners Stück, zu einer einzigen Gestalt zu verschmelzen. Sehnsucht nach begradigter Geschichte und Verschanzung gegen den Terror der Begradigung: das ewige Toben im ungeteilten Menschen. Zwei Seelen in einer Brust, und keine darf sich Sieger nennen. Danton, der aus organisierter Bewegung in den privaten Stillstand kommt, steht gegen Robespierre - der aus solcher Stockung heraus das grausame Rasen der Ideologie entwickelt. Danton, der den einzelnen Körper schützen will gegen die Vereinnahmung durch den Gesellschaftskörper, steht gegen Robespierre - der jedes individuelle Bedürfnis einem Zwang zu permanenter Politisierung unterwirft. Danton begreift nicht, dass die Verlangsamung der Revolution deren Krise ist - Robespierre begreift nicht, dass diese Krise der Revolution schon deren Ende einläutete. Politischer Eifer und poetische Schwärmerei, reaktionäre und progressive Signale stürzen so vehement ineinander, dass sie ununterscheidbar werden. Die Verhältnisse brechen! Und dann schaut man zu und wird stiller: Es sind immer wieder die Verhältnisse, die den Menschen brechen.

Der Dichter Volker Braun sprach vor Jahren - in seiner Rede zum Büchner-Preis! - über den »Inhalt des zupackenden zwanzigsten Jahrhunderts«, und er fragte: »Kamen seine Verwirklichungen nicht Verwüstungen gleich, hat es nicht die Ideen verbraucht wie die Leiber oder, schlimmer gesagt, die Ideen realisiert, indem es die Leiber verbrauchte? (...) Wo es, in diesem Jahrhundert, um den Menschen ging, war an die Gesellschaft kaum gerührt, und wo man die Gesellschaft verändern wollte, wurde nach dem Menschen nicht lange gefragt.«

Das sind so Redestellen, da dürfen die Analytiker um keinen Preis ihrer kühlen Pflicht entsagen, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gründe für massenhaftes Töten schön systemsäuberlich auseinanderzuhalten. Aber es sind so Redestellen, da darf einem selbst, und sei es für Augenblicke der Atemlosigkeit, die unerträgliche Nachbarschaft fast aller politischer Systeme ins Bewusstsein schießen, eher wohl noch ins Fühlen, diese Geschichte, wie sie auch Henning Ritter erzählt, die Geschichte des ohnmächtigen Menschen. Des Menschen unter den Bedingungen einer übermächtigen Tradition des unerbittlichen Machtausübens. Immer wieder, und ganz nah - auch wenn dieses Machtausüben sehr weit weg von uns stattfindet. Oder 18. Jahrhundert war, das eiligst Zukunft wurde. Zukunft aus Schreien der Verwundeten.



Henning Ritter: Zweifel daran ist angebracht, ob die Menschen wirklich ein Gefühl für die eigene Gattung haben. Im 18. Jahrhundert begann man es zu kultivieren, ohne wirklich daran zu glauben. Man spürte, dass die Menschen anders werden mussten, um sich als Gattungswesen erleben zu können ... Man wollte ein umfassendes Wohlwollen für die Menschheit - erzwingen.

Heiner Müller: Wie räumt man ein Minenfeld fragte Eisenhower/ Sieger des Zweiten Weltkriegs einen anderen/ Sieger Mit den Stiefeln/ Eines marschierenden Bataillons antwortete Shukow. (Aus »Mommsens Block«)

Henning Ritter: Die Schreie der Verwundeten. Versuch über die Grausamkeit«. Verlag C.H. Beck München. 190 S., geb., 19,95 €.

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