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Super Ideen ohne Aussicht auf Erfolg
Christoph Ruf über parteipolitisches Kalkül in der Politik
Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele Menschen das Sachzwanggerede in der Politik kritiklos schlucken. Alles unfassbar komplex, Ukraine ... die Damen und Herren haben’s gar nicht leicht. Das kann sogar sein, wenngleich man den Eindruck hat, so mancher in Berlin würde am Überbacken eines Auflaufs scheitern, weil er den Käse nach unten packt. Aufrüstungsminister Boris Pistorius (SPD) hat das gemerkt, als es darum ging, ob man erst alle potenziellen Rekruten mustert und dann die auslost, die das Vaterland gegen russische Drohnen (es waren doch russische Drohnen?) verteidigt. Oder ob man erst lost und dann mustert – um dann wieder ein Drittel auszumustern. Wer das kleine Einmaleins zu schwierig findet, kann es immer noch mit dem kleinen Einspluseins probieren.
Aber okay, anderen die Intelligenz abzusprechen, ist selbst dann billig, wenn sie seit vier Legislaturperioden im Bundestag sitzen. Was mich am politischen Betrieb anseucht, ist eher die Tatsache, dass es kaum noch um die Sache geht. Und de facto immer und allezeit um parteipolitisches Kalkül und damit um eine Politik, die sich nach Meinungsumfragen ausrichtet.
Demokratietheoretisch ist dieses Perpetuum mobile der politischen Inszenierung gruselig: Die Politik, die Scheindebatten führt, befragt das uninformierte Volk und richtet seine Debatten wiederum danach aus. Auf der Strecke bleiben da zum Beispiel die Arbeitsbedingungen in der sozialen Arbeit, die weitgehend ohne Zeugnisverweigerungsrecht auskommen muss. Das steht Pfarrern und Journalisten zu. Das ist auch sinnvoll, weil sonst noch weniger investigative Geschichten erscheinen würden, als aufgrund des Sparzwangs in den Medien eh schon erscheinen. Und wo kämen wir hin, wenn Pfarrer aussagen müssten, was Witwe Bolte so im Beichtstuhl erzählt hat? Der Fan-Sozialarbeit oder der Jugendarbeit steht das Zentrale Vorsorgeregister hingegen nicht zu.
Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet in seiner wöchentlichen nd-Kolumne »Platzverhältnisse« politische und sportliche Begebenheiten.
Und wie doof ist es bitteschön, in der Schwangerenberatung nicht aussagen zu müssen, wenn die Schwangere 18 Jahre alt, wohl aber, wenn sie 17 ist? Das ist offenkundiger Schwachsinn. Seit mehr als 40 Jahren gäbe es sogar parlamentarische Mehrheiten, etwas daran zu ändern. Passiert ist dennoch nichts. Nicht, weil irgendwer ein Gegenargument gehabt hätte. Sondern, weil die Innenpolitik in Berlin ein Primat hat. Und die will derzeit nur über Law-and-order reden – nicht über Liberalität oder Soziales.
Weitere Beispiele: Omir Nouripour (Grüne) hat jüngst gefordert, künftig alle Landtagswahlen gleichzeitig stattfinden zu lassen? Wäre sinnvoll, würde viel Geld sparen. Wird aber nie beschlossen werden, denn Polit-Strippenzieher und Werbeleute in allen 16 Provinzen haben etwas dagegen. Corporate Germany läuft auch dann wie geschmiert, wenn es um die wenigen Milliarden geht, die nicht in die Rüstung fließen. Jüngst hat Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) gefordert, alle – also auch Selbständige und Beamte – in die Rentenkasse einzahlen zu lassen. Super Idee, die ebenfalls nie durchgesetzt wird. Weil der Beamtenbund und die Versicherungslobby dagegen sind.
Zu Ende denken sollte man das alles nicht. Sonst würde vielleicht irgendjemand wirklich mal hinterfragen, ob hierzulande »alle Macht vom Volke ausgeht«. Und die entsprechenden Schlüsse daraus ziehen.
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