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Tabus sollte es nicht geben
Ab heute im Buchhandel: Erinnerungen an Walter Ulbricht, herausgegeben von Egon Krenz
Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte». Das auf Wallenstein gemünzte Schillerwort wird gern zitiert, wenn es um starke Persönlichkeiten in der Politik geht, die ihrer Zeit ihren Stempel aufgedrückt und Gegner wie Anhänger mobilisiert haben. Es trifft auch auf Walter Ulbricht zu. Als «Zonenchef», «Statthalter Stalins in Ostberlin» oder «Diktator von Moskaus Gnaden» beschimpften ihn Politiker und Medien im Westen, als einen «klugen, weitsichtigen und erfolgreichen Politiker», «Staatsmann von Format» erinnern sich an ihn einstige Mitarbeiter und Weggenossen in diesem anlässlich seines 120. Geburtstages erschienen Band. Egon Krenz hat 70 ehemalige Politiker und Wissenschaftler, einstige Jugendfunktionäre und Sportler, Schriftsteller und Künstler zusammengeführt, darunter Hans Reichelt, Klaus Höpcke, Margot Honecker, Gerald Götting, Heinz Kessler, Hans Modrow, Alfred Kosing, Harry Nick, Elfriede Brüning, Manfred Wekwerth und Valentin Falin. Sie haben ihre Erinnerungen niedergeschrieben bzw. sind von Krenz interviewt worden. Tabus sollte es nicht geben.«
Natürlich handelt es sich bei den Berichten um persönliche Eindrücke, subjektiv geprägte Einschätzungen, wie Krenz im Vorwort konzediert. Eine »gewisse Überhöhung« sei dabei verständlich. Krenz versichert jedoch: »Unter den von mir befragten Zeitzeugen war keiner, der Ulbricht idealisierte.« Tatsächlich finden sich kritische Bemerkungen, wenn auch recht zurückhaltend formuliert: Ulbricht sei nicht frei von Irrtümern gewesen und habe Fehler gemacht. Der Hang, Probleme »im Vorwärtsschreiten« aus der Welt zu schaffen, habe zu Überspitzungen geführt. Herbert Graf, der zwei Jahrzehnte eng mit Ulbricht zusammengearbeitet hat, meint, dass dessen »ausgeprägtes Selbstbewusstsein nur reduzierten Raum für Selbstzweifel gelassen« habe. Er fügt hinzu: »Er war aber durchaus bereit, sich erforderlichenfalls öffentlich zu korrigieren.«
Die Zeitzeugen, die Krenz für seinen Band gewann, enthüllen bzw. erklären die oft verkürzt wiedergegebenen, vielfach der Diffamierung Ulbrichts dienenden Statements, darunter das vom 15. Juni 1961, niemand in der DDR habe »die Absicht habe eine Mauer zu errichten«, sein völliges Unverständnis für die Beatles-Musik offenbarende »Yeah, yeah, yeah« wie auch die Losung vom »Überholen ohne einzuholen«, die ihn als weltfremden Phantasten charakterisieren soll. Der Widerlegung des Pauschalverdikts, Ulbricht sei ein uneinsichtiger und unverbesserlicher Dogmatiker gewesen, widmen sich allein acht Zeitzeugen, vom Wirtschaftswissenschaftler Harry Nick bis zum Außenhandelsminister Horst Sölle, die sich zu Ulbrichts Rolle als »Initiator und Chefarchitekt« des NÖS äußern. Dem Vorwurf, dass Ulbricht »moskauhörig« gewesen sei, wird von ehemaligen Mitarbeitern wie auch von sowjetischen Zeitzeugen widersprochen, wobei die Beziehungen zwischen der DDR und UdSSR als »kompliziert« und »nicht konfliktfrei« bezeichnet werden. Graf konstatiert: »Die Gespräche zwischen den Führungspersönlichkeiten erfolgten nicht auf gleicher Augenhöhe.« Sich gegenüber sowjetischen Vorgaben zu behaupten, war sicher eine staatsmännische Leistung Ulbrichts.
Der Westberliner Journalist und Historiker Peter Bender urteilte in seinem 1996 erschienenen Buch über die Geschichte des geteilten Deutschland: »Adenauer wie Ulbricht waren taktisch fast unbegrenzt beweglich und zugleich von eiserner Konsequenz bei der Verfolgung ihrer Hauptziele.« Bereits 1966 hatte der westdeutsche Publizist Sebastian Haffner Ulbricht als den nach Bismarck und neben Adenauer erfolgreichsten deutschen Politiker betrachtet. Krenz verweist darauf in seinem Vorwort. Der Historiker Siegfried Prokop ergänzt, dass sich Haffner auf die im gleichen Jahr erschienene Ulbricht-Biographie des Schriftstellers Gerhard Zwerenz stützen konnte. Und sein Zunftkollege Günter Benser beschreibt, wie Ulbricht sich 1968, von Adenauers Memoiren herausgefordert fühlte und diesen seine Sicht auf die deutsche Nachkriegsgeschichte entgegenstellen wollte.
Mehrere Autoren berichten vom enormen Arbeitspensum Ulbrichts nicht nur als Partei- und Staatschef. Seinen langen Arbeitstag eröffnete er mit Sportübungen, und er beendete ihn stets mit einem halbstündigen Spaziergang. Auch was Ulbricht in seiner Freizeit tat und wofür er sich privat interessierte, erfährt der Leser hier, u. a. aus dem Interview von Krenz mit Edmund Weber, der 1961 bis 1973 im Auftrage der »Hauptabteilung Personenschutz« des MfS für die Sicherheit von Ulbricht zuständig war. Jener weiß u .a., dass Ulbricht die Jagd nicht liebte und nur mit Gästen auf die Jagd ging, wenn er meinte, es sei politisch notwendig.
Ulbrichts Cheffotograf Siegfried Anders wiederum berichtet, wie es zu dem bekannten Foto kam, das den bereits von seinem Kronprinzen Erich Honecker Gestürzten in Morgenmantel und Hauslatschen zeigte, während ihm Politbüromitglieder zum Geburtstag gratulierten, und wie jene kompromittierende Aufnahme ins Zentralorgan »Neues Deutschland« gelangte. Aus dem Bericht seines behandelnden Arzt Rainer Fuckel erfährt der Leser, dass Meldungen über einen geschwächten Gesundheitszustand von Ulbricht - der »zu keinem Moment senil« war - lanciert wurden, um ihn nach dessen Rücktritt als Erster Sekretär im Mai 1971 auch als Staatsratsvorsitzenden und Ehrenvorsitzenden der SED ins politische Abseits zu drängen.
Aus dem Geschichtsunterricht weiß der einstige DDR-Bürger, dass die Rolle des Individuums in der Geschichte begrenzt ist. Aber selbst Plechanow, der sich zu diesem Thema ausführlich und kritisch wie kein anderer auseinandergesetzt hatte, räumte ein: »Die Charaktereigenschaften der Persönlichkeit sind … insofern ein ›Faktor‹ der gesellschaftlichen Entwicklung, wann, wo und inwiefern die gesellschaftlichen Beziehungen ihnen erlauben, es zu sein.« Ulbricht hat die zu seiner Zeit gegebenen genutzt, um die deutsche Nachkriegsgeschichte entscheidend mit zu prägen. Diese Überzeugung dürfte der Leser bei der Lektüre des Bandes über das Leben und Wirken von Walter Ulbricht zweifellos gewinnen.
Egon Krenz (Hg.): Walter Ulbricht
Zeitzeugen und Zeugnisse. Das Neue Berlin, Berlin 2013. 608 S., br., 24,99 €.
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