Alles schon erledigt?

Wir haben eine Pflegereform gemacht, sagt die Regierung. Ihr habt Euch gedrückt, findet die Opposition

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Kritik von Sozialverbänden, Pflegeexperten und Opposition an der Pflegebilanz der Regierung ist heftig. Sie habe notwendige Reformen verdrängt und die Übergabe eines Expertengutachten bewusst hinausgezögert, so die Vorwürfe.

»Andauernd werden Einzelmaßnahmen vorgeschlagen«, empörte sich ein Gesundheitsexperte angesichts der Pflegekonzepte der Regierung. Seine Partei fordere ein schlüssiges Gesamtkonzept. Was sich anhört, als hätte es ein Redner der Opposition in der gestrigen Parlamentsdebatte gesagt, stammt aus dem Jahr 2003, vom damaligen Gesundheitssprecher der FDP, Daniel Bahr. Seit 2009 Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Gesundheit und ab 2011 dann selbst Ressortchef.

Die vierjährige Bilanz der schwarz-gelben Koalition in Sachen Pflege ist dürftig. Seit 2008 bekommen demenzkranke Pflegebedürftige 100 bis 200 Euro im Monat zusätzlich. Sofern sie zu Hause von den Angehörigen betreut werden, erhöht sich die Summe seit diesem Jahr um 70 bis 225 Euro. Damit sollen Angehörige entlastet werden, die zwei Drittel der 2,5 Millionen Pflegebedürftigen hier zu Lande versorgen. Der Pflegebeitrag erhöhte sich um 0,1 Prozentpunkte.

Zahlen & Fakten Pflegereform

● 2010 erhielten rund 2,4 Millionen Menschen Leistungen im Rahmen der Pflegeversicherung. Rund 30 Prozent von ihnen wurden vollstationär in Heimen versorgt. Im Jahr 2030 dürften es insgesamt eine Million Menschen mehr sein. Bei den Demenzkranken wird eine Steigerung von heute 1,4 Millionen auf drei Millionen bis 2050 erwartet.

● Der Beitragsatz für die Pflegeversicherung liegt 2013 bei 2,05 Prozent. Arbeitgeber und Arbeitnehmer tragen anteilig je 1,025 Prozent. Hinzu kommen 0,25 Prozent für Kinderlose, die nur die Arbeitnehmer zahlen.

● Leistungen der Pflegeversicherung sind seit ihrer Einführung 2008 konstant und verloren damit real an Wert. Deshalb müssen Pflegebedürftige immer höhere Kosten tragen, im Schnitt zahlen sie selbst insgesamt im Laufe ihres Lebens 31 000 Euro für den Aufenthalt im Pflegeheim, so Zahlen der Barmer GEK von 2012. Die Pflegeversicherung übernimmt im Mittel für einen Pflegeversicherten Leistungen in Höhe von 33 000 Euro. Nach einer Studie mehrerer Verbände fehlen in Deutschland 2,5 Millionen altersgerechte Wohnungen.

● 2011 arbeiteten knapp eine Million Menschen im Bereich der Altenpflege. Schon heute fehlen zwischen 100 000 und 200 000 Pflegekräfte. Diese Lücke droht um jährlich 50 000 bis 100 000 zu wachsen.

● Der Mindestlohn in der Pflege in Westdeutschland und Berlin beträgt ab 1. Juli 2013 pro Stunde neun Euro, in Ostdeutschland acht Euro.

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Wer allerdings als pflegebedürftig im Sinne der 1995 eingeführten Pflegeversicherung gilt, ist seit mehr als einem Jahrzehnt umstritten. So lange existiert die Forderung nach einer Begriffsdefinition, mehrere Kommissionen arbeiteten daran. Ein Ergebnis, das auch die Demenzkranken berücksichtigte, aber vier Milliarden Euro kosten sollte, gab es bereits vor vier Jahren. Doch anstatt es als Grundlage für eine Reform zu benutzen, rief der damalige Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) großspurig 2010 zum Jahr der Pflege aus. Es war eher ein Jahr der Lüge, meinte SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach gestern im Bundestag. Daniel Bahr beauftragte etwas später erneut einen Expertenbeirat und handelte sich damit den Vorwurf ein, sich vor der Reform zu drücken, um keine Kostenexplosion zu verursachen. Vermutlich wollte er vor allem die Arbeitgeber nicht verärgern. Stattdessen erfand er den Pflege-Bahr, eine private Zusatzversicherung, die mit lächerlichen fünf Euro im Monat bezuschusst wird, und nach 30 Versicherungsjahren gerade mal dem Wert von zwei Monaten Pflege entspricht. Sie war wohl eher als Geschenk für die Versicherungfirmen gedacht. Daniel Bahr flüchtete sich in Einzelmaßnahmen, für die er vor Jahren die rot-grüne Koalition attackiert hatte.

Die prekäre Lage für unzureichend betreute Pflegebedürftige und prekär bezahlte Pflegekräfte änderte sich dadurch nicht. Auch das Pflegezeitgesetz von Familienministerin Kristina Schröder, das zu Beginn des Jahres in Kraft trat und Arbeitnehmern ermöglicht, Angehörige zu Hause zu betreuen, wurde zum Flop, weil es - ohne Bezahlung und ohne Rechtsanspruch - höchstens von ein paar Gutverdienern mit Vollzeitstellen in Anspruch genommen wird. Von der Bundeskanzlerin hat man in all den vergangenen Jahren nicht einmal ein Wort zu diesem Thema gehört. Trotz des ganzen Debakels fand gestern die FDP-Bundestagsabgeordnete Christine Aschenberg-Dugnus, die Kritik der Opposition an der Pflege sei unberechtigt, denn was SPD und Grüne in ihren Anträgen forderten, sei »alles schon erledigt«.

Der Pflegeexperte und Kirchenmann Jürgen Gohde, der die Arbeit im Pflegebeirat aus Verärgerung über seine Auftraggeber niederlegte, hat die Pflegegesetze einmal mit einem Haus verglichen, an das ab und zu neue Balkons angebaut werden. Drinnen ändere sich nichts, aber man gewinnt ein wenig Raum.

Das Expertengutachten von gestern werde nach Ansicht der Regierung zu einer Reform führen, die zwei Milliarden Euro kosten soll. Die meisten aus der Pflegebranche bezweifeln, dass das reicht. Hinzu kommt, dass es eineinhalb Jahre dauern würde, ehe ein Reformbeschluss Realität werden könnte. Es fällt selbst dem Gutwilligsten schwer, daran zu glauben, dass 1,5 Millionen Demenzkranke, alle anderen Pflegebedürftigen sowie deren Angehörige auf eine schnelle Umsetzung einer wie auch immer gearteten Pflegereform nach der Bundestagswahl im Herbst hoffen können. Schließlich hat bisher noch jede neue Regierung erst einmal ihr eigenes Gutachten erstellen lassen.

»Bei der Pflegeversicherung war diese Bundesregierung noch nicht einmal in der Lage, das durchzusetzen, was sie im eigenen Koalitionsvertrag festgehalten hat.« Dieses Fazit trifft die Lage im Juli 2013 ziemlich genau. Es stammt aber von 2007. Vom damaligen FDP-Generalsekretär Dirk Niebel.

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