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Ein Beben im Bodenlosen

Anne Richter: »Kämpfen wie Männer«, Geschichten wie feine Aquarelle

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein Vater und sein Sohn, eine Lehrerin und ihr 17-jähriger Schüler, eine Frau und ihr Onkel, eine Großmutter und ihre Enkelin, zwei Freundinnen, zwei Freunde ... Nicht vornehmlich von sich scheint Anne Richter zu erzählen, sondern von ganz verschiedenen Leuten. Sie versetzt sich in ihre Gestalten hinein, schaut mit deren Augen in die Welt - und beobachtet an ihnen jenes hochsensible Beben, das sie selber von sich kennt.

Dieses dauernde Beobachten und Hinterfragen, diese Sehnsucht nach Nähe und diese Unsicherheit - nichts kann sich in geordnete Bahnen fügen. Niemand, der dir sagen könnte, wie man leben soll, und würde es einer versuchen, würde man sich abkehren müssen. Freiheit, dieses Streben, man weiß es, verletzt. Und wenn man anderen weh tut, fragt man sich, ob einem vielleicht selbst weh getan worden ist. Aber das lässt sich so direkt nicht sagen, außer man würde etwas zuspitzen, übertreiben wollen, aber dann wäre es nicht wahr.

Was aber ist wahr? Dass ein Vater der Liebe seines Sohnes bedarf, umso mehr, als er selber herausgeschleudert wurde aus der Lebensbahn, die er kannte und für die er den Sohn trainieren wollte. Aber dann geschah das, was manche »Wende« nennen und andere »Umsturz«. Das Ende der DDR, die Abwicklung von Betrieben, der Abbruch von Karrieren ist in allen Erzählungen von Anne Richter im Hintergrund, ohne dass es ausgemalt zu werden braucht. Ohne dies, so nimmt man an, würden sich die dargestellten Beziehungen ganz anderes gestaltet haben. Der Vater in der Titelerzählung wäre immer noch obenauf. Der Vater und sein Bruder aus der Erzählung »Geschwister« hätten sich womöglich nicht bis aufs Blut gestritten. Oder dennoch? Tod durch Krebs hat doch nichts mit gesellschaftlichen Umständen zu tun. Aber ist nicht alles mit allem verbunden? Die Autorin vermeidet alles holzschnittartig Gewisse. Ihre Texte sind wie feine Aquarelle, mit leichter Hand gemalt.

Leuchtende Farben mitunter, aber dahinter: Nebel, Melancholie. In der Erzählung »Le coeur a sa mémoire«, einer besonders schönen im Buch, spricht Miriam zu Fanny »von ihrer Furcht, mit einem anderen Menschen zusammen zu leben, worauf Fanny erwiderte, dass sie Miriam verstehe, jedoch die Dauer für sie nicht das Entscheidende sei«. Ohne dass es ihre Absicht gewesen wäre, gibt Anne Richter, geboren 1973 in Jena, in ihrem ersten Buch ihrer Generation Stimme. Die Erfahrung von Zerfall - die Älteren wussten und wissen meist nicht, in welch verheerendem Maße das auch die Jüngeren betraf. Öffneten sich denen nicht ungeahnte Chancen; andere Länder, neue Erfahrungen, während sie, bejahrt inzwischen, zu Hause hockten?

Auch das beobachtet Anne Richter voller Mitgefühl, mit Worten streichelt sie die Alten, doch es schnürt ihr die Kehle zu. Einem jungen Mann stirbt der Freund, einer jungen Frau der Onkel, weshalb sie umso mehr Angst um ihren Vater hat. Eine Großmutter verlässt ihr Haus im Dorf, um näher beim Sohn in ein Zimmer zu ziehen, vielleicht gar in ein Altenheim. »Es ist heute kein Leben mehr«, sagt sie, während sie sich dort aufs schmale Bett setzt. Wie soll die Enkelin da reagieren? Die wollte in die Welt hinaus, glaubt, dass ihre »Augen die Nahrung benötigen«, aber das Fliegen selbst macht ihr Angst. Ob es ein Fliehen ist?

Wenn ja, wovor? Wenn das junge Menschen zu sagen wüssten. Anders wollen sie leben, aber sie wissen nicht wie. Kein Ort nirgends, wo man mit festem Boden unter den Füßen froh sein könnte. Das Überlebte, das sie von sich abschütteln wollen, es klammert sich an ihnen fest.

Anne Richter: Kämpfen wie Männer. Erzählungen. Edition Muschelkalk im Wartburg Verlag. 92 S., br., 11 €.

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