Das ungelebte Leben

Herman Bang: Sein Roman »Michael« war ein existenzielles Wagnis

  • Michael Sollorz
  • Lesedauer: 3 Min.

»Ich weiß eigentlich nicht, ob es so schwer wäre, an dem Abend eines Tages zu sterben, an dem man gelebt hätte«, sinniert der Gast einer kleinen Tafelrunde, die sich in Paris bei dem alten Claude Zoret versammelt. Der ist ein erfolgreicher Maler, seine Bilder erzielen Höchstpreise. Mit am Tisch der 22-jährige Tscheche Michael, des Meisters Muse und Modell. Als »Alkibiades« und »Sieger« hat er ihn verewigt, beide Gemälde genießen Weltruhm.

Bald ahnt man, dass die Wertschätzung des Künstlers für seinen jungen Gefährten mehr ist als die zeittypische Idealisierung männlicher Schönheit. Diese namenlose Liebe macht von sich keine Worte und bleibt unerfüllt. Es ist nicht einmal die feindselige Umwelt, die beide Männern schließlich trennt, sondern das Leben selbst mit seinem unerbittlichen Vorwärtsdrang. Michael verliebt sich in eine junge Frau. Und so geht er.

Zoret bleibt in dem stillen Haus zurück. Jetzt, da Michael fort ist, wird dem alten Mann sein Alleinsein doppelt bewusst. Die Einsamkeit des Künstlermenschen, die Last unerwiderter Liebe. Schließlich zieht er sogar sein Werk in Zweifel. »Manchmal scheint mir, als wären alle Rahmen leer, und als stünde ich selbst alt und verbraucht vor dem, was ich gemalt habe.« Vom Schmerz geschlagen, liegt er an der Grenze zum Tod, während Michael draußen der Geliebten folgt, wie ihm vom Gesetz des Lebens befohlen.

Zorets Auseinandersetzung mit dieser höchsten Kraft führt ihn zur Vision eines letzten, großen Bildes, er beginnt noch einmal zu arbeiten. »Vielleicht werde ich doch noch ein Maler.« Auch davon handelt »Michael«: vom Wert eines Werkes, den kein Erfolg zu messen vermag, vom zehrenden Zweifel, der dazugehört, wo ein Künstler es ernst meint.

Für den dänischen Pastorensohn Herman Bang (1857-2012) war der Roman ein existenzielles Wagnis. Es darf als literarisches Selbstporträt gelesen werden. Noch während der Arbeit, im Jahre 1903, schrieb er seinem Verleger von der fiebrigen Hoffnung, ihm gelinge »ein großes Buch, in dem ich bin«. Da war er Mitte Vierzig und sah sich, selbst des unerfüllten Sehnens müde, bereits als »gebrochener Mensch«. Im Brief an einen jungen Freund beklagt er das Versäumte. »Das Leben, das ist vorüber. Und ich habe alles erreicht, was ein Mensch erreichen kann, nur das nicht, was zu erreichen wert ist.«

Seit einigen Jahren, nach dem 150. Geburtstag 2007 und mit dem 100. Todestag 2012, ist eine gewisse Bang-Renaissance zu beobachten, die aber noch zu keiner Neuausgabe des »Michael« führte, der Thomas Mann »schmerzlich ergriffen« hatte und seinem Sohn Klaus als »der traurigste Liebesroman aller Zeiten« galt. Diese Lücke hat der verdienstvolle Herausgeber Wolfram Setz in seiner »Bibliothek rosa Winkel« nun geschlossen, ergänzt um einen Aufsatz Bangs von 1909, »Gedanken zum Sexualitätsproblem«. Es ist höchst anregend, sich aus unseren freizügigen Tagen in einstige Vorstellungen davon hineinzudenken, was eigentlich ein Homosexueller ist. »Am leichtesten sind sie wohl an den Augen zu erkennen«, so Bang. »Diese Augen sind beinahe immer von einer sehnsüchtigen Trauer.« Zur selben Zeit tritt in Berlin der kämpferische Mediziner Magnus Hirschfeld mit seinem »Wissenschaftlich-humanitären Komitee« der Kriminalisierung homosexueller Handlungen entgegen. Für Herman Bang und ganze Generationen vor ihm, von der Welt betrogen um die Möglichkeit des Glücks, kommt dieser Aufstand zu spät. Der Dichter stirbt 1912 im Alter von nur 54 Jahren.

Wie sagt mit letztem Atem der alte Maler Claude Zoret? »Jetzt kann ich ruhig sterben, denn ich habe eine große Liebe gesehen.« Gesehen, herbeigesehnt, geträumt, doch eben nicht gelebt, weder dieses eine Mal noch je im Leben zuvor.

Hermann Bang: Michael. Roman. Verlag Männerschwarm. 308 S., geb., 20 €.

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