Gaokao - größte Prüfung der Welt

Für Chinesen kann es an Universitäten nur leichter werden

  • Julian Marioulas, Qingdao
  • Lesedauer: 8 Min.
Das neue Hochschuljahr beginnt mit großen Erwartungen und birgt manche Prüfung. Doch in China hat die Studentenschaft vielleicht schon vorher das Schlimmste hinter sich. Gaokao, die Nationale Zugangsprüfung, gilt als größte der Welt. Sie versetzt das Reich der Mitte in eine Art Ausnahmezustand.

Als die heutige Studentin Yu Meihao vor einem Jahr die Gaokao abschloss, warteten viele Hundert Eltern, Dutzende Polizisten und Aufnahmeteams örtlicher Fernsehsender vor dem Tor der 9. Mittelschule von Qingdao. Der Verkehr war streng reglementiert, Busse fuhren im Minutentakt. Auf drei Tage Prüfungen folgten für die Klassenbesten haufenweise Interviews, bevor sie diesen Lebensabschnitt hinter sich lassen konnten. Wie jeder ihrer Mitschüler hatte sich Meihao im Rahmen der Prüfung für eine Wunschuniversität entscheiden müssen. Dann begann das bange Warten auf die Ergebnisse, die über Wohl und Wehe künftiger Studierender entscheiden.

Bis Mitte der 60er Jahre hatte gerade ein Prozent der Bevölkerung der Volksrepublik China die Möglichkeit, an einer Universität zu studieren. Während es in den frühen Jahren der Volksrepublik große Fortschritte im Bildungswesen gegeben hatte, blieben Hochschulen exklusive Clubs. Unter dem allmächtigen Mao Zedong traten zwar neue Parteikader an die Stelle der alten Bildungseliten, doch eine wirkliche Öffnung der Universitäten fand nicht statt.

Fragen über Fragen

Durchaus mehrere Tage kann die Gaokao dauern. Da lassen sich viele Fragen stellen und manche Rätsel aufgeben. Nicht alle müssen in den großen Bücher- und Papierbergen, die die künftigen Studierenden zur Vorbereitung durchforsten, Antwort und Lösung finden.

Was würde wohl Thomas Edison über Mobiltelefone denken, lebte er heute noch, lautete ein Frage in Beijing. Wie ein »ausgewogenes Leben« zu gestalten sei, war Thema in Sichuan. Kein Geringerer als der Dramatiker George Bernhard Shaw war Pate einer Aufsatz-Erörterung in der Provinz Anhui. Der berühmte Ire meinte, dass manche die Dinge so sehen würden, wie sie seien. Diese Realisten würden »warum?« fragen. Er hingegen »träume von Dingen, die es niemals gab«, würde aber sagen: »Warum nicht?«

Weiter zurück ging es in der Provinz Shandong. Die alten Römer hätten »das menschliche Wesen selbst geschaffen«, wurde der französische Historiker Philippe Nemo zitiert. Werde diese These nun davon gestützt, dass das römische Recht die Interessen der Aristokratie stütze, so die Alternativen, Besitzrechte schützte, Widersprüche in der Gesellschaft entschärfte oder das moderne kapitalistische Rechtssystem entwickelte?

Ein Aufsatz für die Prüfung in Shanghai ließe sich dafür ganz gut als Vorarbeit leisten. Denn dort anerkannten die Prüfer, dass es in unserem Leben vieles gebe, was wir für wichtig hielten - doch »es gibt noch wichtigere Dinge in der Welt«. Menschen hätten verschiedene Meinungen zu diesem Thema. »Wählen Sie einen Standpunkt aus und schreiben Sie ihre Gedanken dazu.« nd

 

Im Gegenteil: In den Jahren der Kulturrevolution (1966-1976) wurde die universitäre Lehre fast vollständig vernichtet. 1966 nahm man Abschied von standardisierten Prüfungen. Voraussetzung für die Zulassung zum Studium wurden Empfehlungen durch Betriebe, Armee und Partei. Dann wurde die Bewegung »Schulbildung auf dem Land« ins Leben gerufen. In deren Rahmen wurden die städtische Jugend und besonders die Studenten dazu gezwungen, bäuerliche Arbeiten zu verrichten. Dem folgten weitere Kampagnen gegen vermeintlich bourgeoise Intellektuelle, von denen viele zwangsumgesiedelt wurden und einige durch Exzesse lokaler Parteikampagnen sogar ums Leben kamen.

Nach dem Ende der Kulturrevolution im Jahr 1976 lag das Hochschulwesen in Trümmern. Viele Dozenten, die es noch nicht getan hatten, verließen das Land. Unter dem starken Mann Deng Xiaoping wurde ein Jahr später die Hochschulzugangsprüfung, die Gaokao, wieder eingeführt - der Grundstein für eine Entwicklung der Universitäten, die bis heute andauert.

Waren es 1977 rund 5,7 Millionen Schüler, die an der Gaokao teilnahmen, sind es gegenwärtig jährlich um die neun Millionen. Gestiegen ist vor allem die Zahl der Studienplätze. 1977 wurden lediglich 273 000 Studenten in die Universitäten aufgenommen, heute sind es über drei Millionen.

Der Druck auf die jungen Studienbewerber ist jedoch nicht gesunken. Größere Chancen auf eine Zulassung bedeuten, dass ein Scheitern außer Frage steht. Und ein Studienplatz bedeutet nicht mehr automatisch eine sichere Arbeitsstelle in einem Staatsbetrieb. Nun heißt es: Je besser der Ruf einer Universität, desto höher die Aussicht auf Erfolg. Die Familien hoffen darauf, dass ihr Kind nicht nur an einer Provinzuniversität studiert, sondern an einer nationalen.

Auch in China kommt es nach sechs Jahren Grundschule zu einer Auslese, obwohl es kein gegliedertes Sekundarschulsystem gibt. Aber nicht alle Mittelschulen sind gleich - die besten Schulen in jeder Stadt haben eine bessere Ausstattung, angesehenere Lehrkräfte und teilweise auch das Recht, die besten Schüler eines Jahrgang direkt für Plätze an Spitzenuniversitäten zu empfehlen.

Die 9. Mittelschule von Qingdao ist so eine Einrichtung. Wer hier zugelassen werden will, muss ein mehr als überdurchschnittliches Ergebnis in der Zhongkao vorweisen, der Prüfung zur Zulassung für die Mittelstufe.

Yu Meihao hatte Glück. Die Schule liegt unweit ihres Elternhauses. Wie andere Stadtkinder konnte sie deshalb die Wochenenden im Kreise ihrer Familie verbringen und ab und an auch in der Woche zu Hause vorbeischauen. Für die meisten jungen Schüler ist die Zhongkao dagegen der Zeitpunkt, an dem sie ihre Heimat verlassen. Chinesische Städte schließen viele tausend Quadratkilometer Umland ein, und die besten Mittelschulen liegen fast ausschließlich in den städtischen Zentren. Daher bedeutet die Chance, an einer guten Mittelschule zu lernen, für Kinder aus Bauernfamilien und armen Landstrichen, die folgenden sechs Jahre von den Eltern getrennt leben zu müssen. Nur in den Ferien können sie nach Hause kommen.

Chinas Schulen sind große Lernfabriken unter strenger Aufsicht des Staates. Sie alle arbeiten der Gaokao zu, die von den Provinzen verwaltet wird. In den letzten Jahren der Oberstufe sind zehn Stunden Unterricht am Tag die Norm - und das sechs Tage in der Woche. Selbst die spärliche Freizeit wird mit Lernen ausgefüllt. Vor allem wenn die Kinder bei ihren Eltern wohnen, werden sie dazu gedrängt, sich künstlerisch zu betätigen oder Abendschulen zu besuchen. Es bleiben nur die Ferien, um sich zu entspannen - wenn übereifrige Eltern den Nachwuchs nicht auch noch in Sommerschulen schicken.

In den Mittelschulen ist jedes Klausurergebnis öffentlich. Wer in dieser Zeit überragende Prüfungsleistungen erbringt, wird dazu angehalten, noch mehr zu lernen, um einen Platz an der renommierten Peking- oder der Tsinghua-Universität zu ergattern und damit zugleich auch den Ruhm seiner Schule zu mehren.

Yu Meihao hatte recht bescheidene Ziele: Sie arbeitete auf einen Platz an der Fremdsprachenuniversität Xi›an zu. Da sie sich mit ihren Leistungen im Mittelfeld der Klasse befand, konnte sie den größten Tücken ausweichen, die bereits bei manchen Schülern zu einem frühen Burnout führen.

Im Vorjahr war es rund um die Gaokao zu zwei Vorfällen gekommen, die schnell die Runde machten. In der mittelchinesischen Provinz Hubei war ein Klassenraum so hergerichtet worden, dass die Schüler während des Lernens Infusionen erhielten. Blutinfusionen in Vorbereitung auf Prüfungen sind keine Seltenheit. In diesem Fall sollte nach Angaben des Rektors der Weg zur Schulklinik vermieden werden, um ein paar Minuten mehr fürs Lernen herauszuschlagen.

Im etwas weiter nördlich gelegenen Anhui dagegen hielten Familie und Lehrer gegenüber einem Schüler zwölf Tage lang die Nachricht vom Tod seiner Mutter zurück, die bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Auch dass der Vater während dieser Zeit schwer verletzt und dem Tode nahe im Krankenhaus lag, wurde erst nach der absolvierten Prüfung mitgeteilt. Meldungen über Selbstmorde von Schülern vor oder nach der Prüfung sind auch in China - wie in Korea und Japan, die ähnlich harte Systeme zur Hochschulzulassung kennen - inzwischen durchaus keine Seltenheit mehr.

Neben den Pflichtfächern Chinesisch, Englisch und Mathematik gibt es zwei mögliche Schwerpunkte in der Gaokao, namentlich technische oder geisteswissenschaftliche Fächer. Die Entscheidung, welche der Prüfungen man anstrebt, erfolgt in der Regel zu Beginn der Oberstufe, also im vierten von sechs Jahren Mittelschule. In einigen Provinzen gibt es die Möglichkeit, Wahlfächer aufzunehmen, in Shandong beispielsweise auch Deutsch. Die drei Pflichtfächer machen in jeder Provinz 300 von insgesamt 750 möglichen Punkten aus.

Die Anforderungen an Allgemeinbildung, Fachwissen und Rechenfähigkeiten sind enorm - das gesamte Programm der sechs Jahre Mittelschule ist potenzieller Prüfungsinhalt der Gaokao. Selbst in Bezug auf ausländische Geschichte werden Kenntnisse über jede Epoche verlangt. Der größte Teil der Prüfungen besteht aus Fragen mit mehreren Antwortmöglichkeiten. Zu jeder Prüfung gehört ein Aufsatz zu einem vorgegeben Thema.

Die Gaokao ist für Erwachsene bis zum Alter von 30 Jahren möglich. Wer jedoch beim ersten Mal weit unter der für ein Universitätsstudium verlangten Punktzahl liegt - sie ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich und in den Metropolen Peking und Shanghai insgesamt niedriger, liegt aber im Durchschnitt bei etwa 500 Punkten - wagt selten einen zweiten Anlauf und besucht stattdessen ein technisches College oder eine Berufsschule.

Universitäten in Australien und den USA haben die Gaokao als Zugangsvoraussetzung anerkannt. Dabei liegen die notwendigen Punktzahlen teilweise weit niedriger als an den nationalen Universitäten in China. Doch die Studiengebühren sind um ein Vielfaches höher. Für ein Auslandsstudium ist der finanzielle Spielraum der Familie daher weitaus entscheidender als die schulischen Leistungen. Trotzdem verzichtet keine Mittelschule darauf, ihren Zöglingen das Prestige eines Auslandsstudiums klarzumachen. An der Mauer der 9. Mittelschule finden sich die Mottos aller Universitäten der Ivy League, der Elite-Universitäten der USA. Wer einen chinesischen Schüler fragt, welche die globalen Spitzenunis sind, erhält eine ausführliche Antwort.

Yu Meihao scheiterte schließlich knapp an der für das Fremdsprachenstudium in Xi‹an benötigten Punktzahl. Nach vielen Tränen entschied sie sich, in ihrer Heimatstadt zu bleiben, und erreichte die Zulassung an der Universität für Wissenschaft und Technik Qingdao, wo sie nun seit einem Jahr Deutsch studiert. Bereut hat sie die Entscheidung nicht. Sie lebt weiter im Kreis ihrer Familie und kann sich mit Freunden treffen, von denen nicht wenige ebenfalls ein Studium an den Unis der Stadt aufgenommen haben.

Die anstrengendste Phase waren natürlich die letzten Monate vor der Prüfung. Jeder von Meihaos Tagen war wie der ihrer Mitstudenten auf die Minute genau aufgeteilt, um möglichst viel wiederholen zu können. Dies bedeutete in der Regel, zehn bis zwölf Stunden im Klassenraum vor einem riesigen Stapel Prüfungsbögen zu sitzen und sich soviel einzuprägen, wie nur irgend möglich ist. Am Ende erreichte sie 576 Punkte in der Gaokao. Genug für eine gute Uni in Shandong, aber nicht, um nach Xi›an zu gehen.

Es ist den Chinesen ohne Frage bewusst, dass die Fähigkeit zum Auswendiglernen nicht unbedingt ein Zeichen von Intelligenz ist. Aber kreativere Ansätze für die Gaokao wurden bisher nur in Ansätzen gewagt - z.B. auch Leistungen außerhalb der Prüfung selbst zu berücksichtigen. Vor dem Prüfungsbogen immerhin sind alle gleich. Würde hingegen jede Bildungsinstitution eigene Regeln festlegen dürfen, so die Kritiker, dürfte dies Korruption Tür und Tor öffnen.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal