Aufruf zur Selbstkritik

Zum 85. Geburtstag des Mannheimer Historikers Hermann Weber

Erstmals erfuhr ich von ihm während des Geschichtsstudiums - durch einen Kommilitonen, der sich schon damals für biografische Brüche im Leben deutscher Kommunisten interessierte. Sodann als Geschichtsredakteurin im »Neuen Deutschland«. Der für die Abteilung Wissenschaft zuständige stellvertretende Chefredakteur versorgte die Kollegen mit Artikeln aus Westzeitungen, darunter auch einige aus der Feder des Mannheimer Historikers, einmal gewürzt mit dem Kommentar: »Er hat Arthur Golke falsch geschrieben. Das werde ich ihm in unserer morgigen Ausgabe unter die Nase reiben.« - Mit oder ohne »h« war hier die Streitfrage. Immerhin, dadurch schaffte es der ehemalige Hauptkassierer der KPD, der dem Stalinschen Terror zum Opfer gefallen war, zu Zeiten, als das noch nicht selbstverständlich war, in die Spalten des Zentralorgans der SED.

Nach Wende und Mauerfall schließlich hatte ich die Gelegenheit, den Mann, mit dem über Jahrzehnte SED-Historiker ein Fernduell fochten, persönlich kennenzulernen und für dieses Blatt zu interviewen. Ein freundlicher, aufgeschlossener, beredter Herr. Der sich freilich damals die Gelegenheit nicht entgehen ließ, nun erstmals via ND seine ostdeutschen Zunftkollegen zur Selbstkritik aufzufordern - wegen der vielen »weißen Flecken«, die sie (davon ging er aus) wider besseres Wissen in der Parteigeschichtsschreibung geduldet respektive mit verantwortet haben. Und die er ihnen zuvor mehrfach in Buchform und Zeitschriftenartikeln vorgehalten hat.

Heute vor 85 Jahren wurde Hermann Weber in Mannheim geboren. Und man ist geneigt, in seinem Geburtsdatum eine weitere Bestätigung für die Allmächtigkeit der Zahlenmagie zu finden. Am 23. August wurde der sogenannte Hitler-Stalin-Pakt unterschrieben. Hat dieser Geburtstag Weber quasi schicksalhaft seinen lebenslangen Forschungsgegenstand vorherbestimmt - die Wandlungen des deutschen Kommunismus im 20. Jahrhundert? Prädestination würde der Sohn eines Kommunisten, der in jungen Jahren selber einer war - nach eigenem Bekenntnis zwar kein unkritischer, aber gläubiger -, gewiss von sich weisen. Bereits im Knabenalter hat er den Vater, von Beruf Metallarbeiter und jahrelang erwerbslos, auf Demonstrationen begleitet, die in Konfrontationen mit den Nazis mündete. In seinen Memoiren, erinnert er sich, leidenschaftlich »Heil Moskau, der Hitler is ä Drecksau!« ausgerufen zu haben. Und er berichtet von erbitterten politischen Diskussionen in der Verwandtschaft, alles Proletarier, gespalten indes in Kommunisten und Sozialdemokraten.

Als US-Besatzungssoldaten 1946 eine Villa in Mannheim requirierten, die Bibliothek ausräumten und - welch Frevel - alle Bücher auf den Müll warfen, sammelte Weber ganze Jahrgänge der anarchokommunistischen, von Franz Pfemfert herausgegebenen Zeitschrift »Die Aktion« auf und studierte sie. Vielleicht hat ihn diese Lektüre davor bewahrt, in Doktrination zu erstarren. Im selben Jahre besuchte er freudig einige Wochen einen Kursus der FDJ-Hochschule am Bogensee bei Berlin, der erste Lehrgang. Die Debatten seien damals noch verhältnismäßig freimütig gewesen. Sodann nahm er am I. Parlament der FDJ in Brandenburg teil und hielt seine erste Rede - mit großem Erfolg: »Wie überall in Westdeutschland gibt es auch in Mannheim Jugendausschüsse. In ihnen sitzen Jugendliche, die die komische Eigenschaft haben, lange Bärte zu tragen. (Große Heiterkeit und Beifall). Man hat ausgerechnet, dass das Durchschnittalter in dem Mannheimer Jugendausschuß 50 Jahre beträgt (Erneute große Heiterkeit)... Man nennt daher diesen Jugendauschuß Greisenrat (Heiterkeit).« In das offizielle Tagungsprotokoll fand die Rede des vorwitzigen Mannheimers keine Aufnahme. Erst über vier Jahrzehnte später konnte der Referent sie in einer stenografischen Mitschrift nachlesen - dank der Entdeckung im Archiv durch den erwähnten einstigen Kommilitonen der Autorin dieser Zeilen.

Weber gehörte zu den Teilnehmern des ersten Zweijahreslehrganges der Parteihochschule »Karl Marx«, damals noch in Liebenwalde, später in Kleinmachnow. Es scheint ihn noch heute zu ärgern, dass er dort den wunderlichen Decknamen »Wunderlich« bekam. Erfreulich hingegen: Hier lernte er seine Frau Gerda kennen, mit der ihn eine mittlerweile über sechzigjährige glückliche und auch wissenschaftlich ertragreiche Ehe verbindet.

Mit Herbert Mies, dem späteren langjährigen DKP-Vorsitzenden, war Weber aus Mannheim illegal über die Zonengrenzen in das sowjetische Besatzungsgebiet eingereist und hat die feierliche Eröffnung der Parteihochschule am 7. Oktober 1947, zwei Jahre vor der Gründung der DDR, nur knapp verpasst. Einer seiner Lehrer dort hieß Wolfgang Leonhard, der gleich ihm alsbald mit dem Parteikommunismus brach. Waren dem Jungkommunisten Weber zwar schon die Geheimniskrämerei und stetigen Aufrufe zur Wachsamkeit an der SED-Hochschule obskur, so haben ihn vor allem die erwartete totale Unterwerfung, Disziplin und Gläubigkeit abgeschreckt und abgestoßen.

Später schreibt Weber: »Die totalitär stalinistische Diktatur über die Massen setzte außer den entsprechenden Machtstrukturen voraus, dass innerhalb der Partei der Apparat, d. h. die Kader ›funktionierten‹. Politisch-ideologischer Konformismus der Funktionäre sollte durch ideologische Indoktrination, allerdings auch durch innerparteiliche Verfolgungen, verharmlosend Säuberungen genannt, erreicht werden. Das bedeutete Terror und Repressalien sogar in den eigenen Reihen. Solche ständigen ›Säuberungen‹ waren eine Besonderheit des Kommunismus. In der jüngeren Geschichte war er die einzige Bewegung, die mehr ihrer eigenen Führer, Funktionäre und Mitglieder ermordet hat, als das ihre Feinde taten.«

Man mag mit dem Mannheimer streiten, wann die das »realsozialistische Experiment« in die Sackgasse führenden Weichen gestellt waren und ob es nicht stets noch Alternativen gegeben habe. Zu danken ist dem emeritierten Inhaber des Lehrstuhls für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Mannheim (1975 bis 1993) und Herausgeber des Jahrbuchs »Historische Kommunismusforschung« in mehrfacher Hinsicht. Er hat 1968 das Original-Protokoll des Gründungsparteitages der KPD wiederentdeckt. Auch wirkte er an der Rettung des SED-Parteiarchivs und der Gründung Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (SAPMO) mit. Vor allem aber ist die beharrliche Beschäftigung des Nestors der westdeutschen Kommunismusforschung mit heroischen wie tragischen Biografien zu nennen. Hierbei hat er nach der deutsch-deutschen »Vereinigung« einen neuen Mitstreiter gefunden, den erwähnten Kommilitonen. Vor zehn Jahren brachten Hermann Weber und Andreas Herbst die erste Auflage ihres »Biographischen Handbuches« heraus - in knallrotem Einband. Knallrot ist auch der justement auf den Buchmarkt gelangte Supplementband zu diesem Standardwerk. Die druckfrische Publikation wird gewiss heute den Geburtstagstisch bei Familie Weber in Mannheim schmücken.

● Andreas Herbst/Hermann Weber: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918-1945. Karl Dietz Verlag, Berlin. 1168 S., geb., 898 Abb., 70 €.

● Hermann Weber/Andreas Herbst: Deutsche Kommunisten. Supplement zum Biographischen Handbuch. 296 S., geb., 314 Abb., 29,90 €.

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