Witz nah am Abgrund

Nicanor Parra zum 99.

  • Ingolf Brökel
  • Lesedauer: 2 Min.

Man hört nie auf/ geboren zu werden» - daran hat sich Nicanor Parra scheinbar gehalten: Er wird heute 99 Jahre, wohl der zur Zeit Älteste unter den großen Dichtern der Welt.

Parra wurde am 5. September 1914 in der Nähe von Chillán, einer Stadt in Mittelchile, geboren, die für sein ganzes Leben und Wirken wichtig blieb.

Bekannt wurde Parra durch sein zweites Buch, den Gedichtband «Poemas y antipoemas», der 1954 herauskam und die Antipoesie verkündete: «Alles ist Poesie/ außer die Poesie». Die dort enthaltenen Gedichte brechen mit der erhobenen Sprache, mit den Konventionen der Lyrik, mit dem großen Gesang etwa eines Pablo Neruda.

Achterbahn

Ein halbes Jahrhundert
War die Poesie
Ein Paradies für feierliche Trottel.
Dann bin ich gekommen
Mit meiner Achterbahn
Steigen Sie ein, wenn Sie Lust haben.
Allerdings: ich hafte nicht, wenn Sie am Ende
Aus Mund und Nase bluten.

So klingt das programmatische Antigedicht: Es hebt sich von der ursprünglichen Lyrik durch die Alltagssprache ab, eine lyrische Überhöhung findet nicht statt, man spricht, wie man spricht mit dem Nachbarn, nur: ironisch, radikal, illusionslos und provozierend. Dabei klingt immer ein Witz dicht neben dem Abgrund. Parra gelingt es in seinen Gedichten, allein durch seine «herunter genommene Sprache», die Ambivalenz seiner Worte, durch Paarung von Wider-Spruch und Kontro-Verse überraschende Einsichten in die Wirklichkeit zu schaffen.

Den Antipoeten hat Parra nie abgelegt: die «Artefactos», kleine Verse, Sprüche oder Satzgebilde, erscheinen Ende der sechziger Jahre als neue provokante lyrische Form. Redewendungen, Sprüche und Zitate von der Straße, von Häuserwänden, Parks und Klos, aus der Werbung, der Literatur sammelt Parra auf, verändert diese leicht und verdichtet sie epigrammatisch.

«Revolution, Revolution/ wie viele Konterrevolutionen/ begeht man in deinem Namen?»

Parra hatte Physik studiert und arbeitete u. a. als Physik-Professor an der Universität in Santiago de Chile. Seine klare und präzise Auswahl der Worte, ihren treffsicheren Einsatz im Bemühen, das Wesentliche zu sagen, erinnert daran, wie auch die «Antipoesie» selbst. In den 80er Jahren wendet er sich angesichts der globalen Zerstörung der Natur der «Ökopoesie» zu. «… Sozialisten und Kapitalisten/ vereinigt euch/ bevor es zu spät ist ...» heißt es am Ende eines Gedichts.

Im Jahre 2011 bekam Nicanor Parra die höchste Literaturauszeichnung der spanisch sprechenden Welt, den Cervantes- Preis. Mehrfach wurde er von unterschiedlichen Universitäten für den Nobelpreis für Literatur vorgeschlagen.

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