Wer die Wahl hat

Der 22. September rückt näher und näher

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 3 Min.

Es ist entsetzlich, wie die Kalenderblätter es jetzt dem Laub der Bäume gleichtun: Immer schneller segeln immer mehr von ihnen zu Boden, um uns die Vergänglichkeit dieses herrlichen Sommers grausam ins Bewusstsein zu säuseln. Unerbittlich verstreicht Tag um Tag. Aus nächster Zukunft lacht uns der Herbstanfang seinen hämischen Hauch entgegen. Der 22. September ist zum Greifen nahe, so sehr man sich auch müht, die Hände nicht nach ihm auszustrecken. Schon stürzt die Temperatur. Schon peitscht der Regen. Es ist nicht zu leugnen: Wer nicht umgehend in wärmere Gefilde ausreisen will oder kann, muss sich unweigerlich dem Wechsel der Jahreszeiten beugen.

Dass die Festlegung des Herbstbeginns keinem demokratischen Votum unterliegt, kommt Millionen von Deutschen allerdings gar nicht so ungelegen. Es handelt sich bei ihnen um jene allen Anzeichen zufolge stetig wachsende Gruppe von Menschen, denen die Freiheit, sich unter verschiedenen Möglichkeiten für eine einzige zu entscheiden, geradezu physische Schmerzen verursacht.

Der Volksmund hat für dieses Phänomen eine schöne und wahre Redewendung geprägt: »Wer die Wahl hat, hat die Qual«. Die Psychologie kennt die panische Angst vor der Entscheidung unter dem Begriff Kairophobie. Und Jochen Schmidt, der behauptet, Schriftsteller geworden zu sein, »um mich nicht für einen Beruf entscheiden zu müssen«, hat für das lähmende Leiden den Begriff »Optionsparalyse« geprägt. Eine Linderung läge so nahe, wie Schmidt in seinem Buch »Meine wichtigsten Körperfunktionen« schreibt, ist jedoch leider nicht mehrheitsfähig: »Für mich wäre es das beste, es gäbe genau eine Buslinie, die auch nur eine Haltestelle hat.«

Stünden am 22. September Frühling, Sommer, Herbst und Winter zur Wahl, wäre das wohl selbst für einen Kairophobiker wie Jochen Schmidt das geringere Übel. Anstelle der in ihrer Anzahl recht übersichtlichen vier Jahreszeiten stellen sich an jenem Tag furchteinflößende 34 Parteien zur Wahl, um in den Bundestag einzuziehen. Wie viel schlimmer ist das für notorisch Unentschlossene! Zu ihrem Glück hat in Deutschland noch niemand die Wahlpflicht eingeführt, die es in anderen Ländern ja gibt.

Es muss an dieser Stelle einmal deutlich darauf hingewiesen werden, dass die Masse der Nichtwähler sich keineswegs, wie es oft heißt, nur aus Gleichgültigen und Politikverdrossenen rekrutiert. Nein, ein großer Teil dieser Gruppe dürfte sich im Vorfeld der Bundestagswahl die Nerven aufreiben, Wahlprogramme wälzen wie die Beipackzettel von Medikamenten und sich dabei in unermesslichen Qualen winden. Von wegen Gleichgültigkeit! Es ist im Gegenteil ein überdurchschnittlich ausgeprägtes Verantwortungsgefühl, das Optionsparalysierte davon abhält, ihr Kreuz unwiderruflich an eine Stelle auf dem Wahlzettel zu setzen. Wie könnte ein Gewissen es ertragen, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass man sich falsch entschieden hat?

So wie Koma-Patienten, die sich Essen und Trinken nicht aus eigenem Willen zuführen können, im Krankenhaus künstlich ernährt werden, steht für klinische Wahlzauderer eine Maschine bereit, die ihnen vorgeblich jene Entscheidung erleichtert, mit der sie sich so schwertun. Doch was, wenn dieser Wahl-O-Mat, der in Wirklichkeit ohnehin eher ein homöopathisches Populismus-Barometer ist, exakt 87,6 Prozent Übereinstimmung der eigenen Meinung mit den Positionen von gleich zwei, nach eigener Aussage politisch weit voneinander entfernten Parteien berechnet? Einen Kairophobiker kann das in die Verzweiflung, wenn nicht gar in den Selbstmord treiben.

Der 22. September, so viel steht fest, nimmt darauf keine Rücksicht. Er kommt. Es wäre im Sinne der vielen Unentschlossenen, dieses Datum nicht per Wahl, sondern per Naturgesetz als jenen Tag festzulegen, an dem mit dem Wechsel der Jahreszeit auch der Wechsel der Regierung vollzogen wird. Ganz bestimmt wäre das undemokratisch und wahr ist auch: Wir haben schon scheußliche Herbste erlebt. Aber eigentlich auch ganz schöne.

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