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  • Politik
  • Edvard Munch-Ausstellung in Chemnitz

Voller Liebe und Grauen

  • Kristina Bauer Volke
  • Lesedauer: 6 Min.

Edvard Munch (1863-1944) gilt neben Van Gogh und Cezanne als einer der wichtigsten Wegbereiter der Moderne in Europa. In Auseinandersetzung mit dem französischen Impressionismus entwickelte er eine expressive Formsprache, deren Linien und Symbole von ungeheurer suggestiver Kraft und Ausstrahlung sind. Munch suchte nach einem Bild des Menschen, das mehr als Dekoration, mehr als Nachahmung der Natur sein konnte. «Lebendige Menschen sollten es sein, atmende und fühlende, leidende und liebende», schrieb er einmal in seinem Tagebuch, und seine Werke sind genau dies: ein Ausdruck seelischer Zustände und Erregungen zwischen Glück und Angst, Liebe und Grauen. Munchs Antrieb zur Kunst war sein eigenes Erleben. In Kristiana (dem heutigen Oslo) aufgewachsen, sind die familiären Krisen die eigentlich prägenden Erlebnisse seines Lebens: eine Kindheit, die von den Depressionen des Vaters, Krankheit und Tod von Mutter und Schwester gezeichnet sind. Diese Erlebnisse sollen Zeit seines Lebens sein künstlerisches Schaffen bestimmen - immer wieder kehrt er zu den Themen Tod und Krankheit, Leid und Ver zweiflung zurück, später erschließen sich neue Themenkreise um Liebe und Einsamkeit, Künstler und Welt. Munch, von seinen ersten Kritikern als «Maler des Hässlichen» verschrien, galt bald als Universalkünstler, der nicht nur verschiedene Stile, sondern auch verschiedene Wir kungsmöglichkeiten von Kunst zu einer ganz eigenen, individuellen Sprache umzusetzen vermochte. Und immer ist der persönliche Bezug, die existenzielle Auseinandersetzung des Künstlers mit sich selbst in fast mystischer Präsenz spürbar. Die Gemälde und Grafiken des Norwegers beeinflussten schon zu Lebzeiten die internationale Künstlerschaft, für die seine Kunst einen rigorosen Bruch mit den stark naturalistisch und klassizistisch orientierten Kunstströmungen des 19 Jahr hunderts bedeutete. Seine erste Ausstellung in Berlin 1892 wurde zum Skandal und nach kurzer Zeit wieder geschlossen, doch gab sie gleichzeitig den Anstoß zur Gründung der «Freien Künstlervereinigung» (spater Berliner Sezession), die in Abgrenzung zum konservativen, wilhelminisch geprägten Kunstbetrieb an der Preußischen Kunstakademie neue künstlerische Wege suchte, und sowohl Impressionismus als auch Symbolismus den Weg ebnete. Die deutschen Expressionisten verehrten Munch als einen der Ihren, suchten in seinen Werken nach Anregungen und Wegen für die eigene Kunst. Gerade die Brücke-Künstler betrachteten den Norweger als ihren «geistigen Vater».

Munch, ein Vielreisender, verbrachte zahlreiche Monate seines Lebens in Deutschland, unterhielt für einige Zeit auch ein Atelier in Berlin. Von hier aus begleitete er seine Ausstellungen, die ihn unter anderem nach Dresden und Weimar, München, Lübeck, Düsseldorf und Köln führten. Und 1905 nach Chemnitz, wo der Strumpffabrikant und Großunter nehmer Herbert Eugen Esche ihm den Auftrag erteilt, Porträts seiner Familie zu malen. Esche, Liebhaber und Förderer der modernen Kunst, hatte wenige Jahre zuvor bereits Henry van de Velde dafür gewonnen, eine Villa als Familiensitz zu bauen und die Inneneinrichtung zu gestalten. Munch kommt über van de Veldes Vermittlung nach Chemnitz und malt im Ergebnis des dortigen Aufenthaltes sieben Familienporträts. Sie stellen den Anfang einer erstaunlich engen Beziehung zwischen dem international renommierten Künstler und der kleinen sächsischen Industriestadt dar. Fünf teils sehr groß angelegte Ausstellungen sollen bis 1929 für Munch in Chemnitz ausgerichtet werden. Familie Esche, das hiesige Museum und die Chemnitzer Kunsthütte bemühen sich ständig um Ankäufe und Neuerwerbungen für die eigene Sammlung.

Mit dem Beginn der Nazizeit und der Verfemung moderner Kunst ist auch Munchs große Zeit in Deutschland vorüber. 1932 noch von Reichspräsident Hindenburg durch die Goethe-Medaille für Wissenschaft und Kunst geehrt, werden 1937 seine Werke zur «entarteten Kunst» erklärt. Der anschließenden «Reinigung der Museen und Kunstsammlungen» durch die Nationalsozialisten fallen 82 Werke zum Opfer - so auch das in Chemnitz erworbene Gemälde «Zwei Menschen» (Die Einsamen), für das der Ex pressionist Karl Schmitt-Rottluff in tiefer Verehrung für Munch einst den Rahmen schuf. Eigentlich enden hier die Beziehungen zwischen Munch und Deutschland. Der Künstler starb 1944 im Alter von 81 Jahren in Norwegen und verweigerte nach der Besetzung seines Heimatlandes jeden Kontakt mit Deutschen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatten es seine Werke wiederum schwer. In der DDR, wo in den fünfziger und sechziger Jahren erbitterte Kämpfe gegen ver meintlich formalistische Kunst ausgefochten werden, zählt Munch wiederum zu den offiziell Ungeliebten. Später wird es ob der enormen Berühmtheit Munchs schwer, ihn seiner einstigen Bedeutung und Präsenz gemäß auszustellen. Auch heute zählen seine Werke zu den größten Schätzen in internationalen privaten und öffentlichen Sammlungen und machen Ausstellungen zu schwer realisierbaren Unterfangen.

Um so beeindruckender ist die Schau, welche momentan in Chemnitz zu sehen ist. Genau siebzig Jahre nach der letzten und größten Werkschau Edvard Munchs zeigt die Kunstsammlung Chemnitz 150 Werke des Künstlers, unter denen zahlreiche der bedeutendsten Gemälde und Grafiken zu finden sind. Wunderbare Landschaftsbilder der Gegend bei Aasgaardstrand, wo Munch oft seine Sommermonate verlebte, Bildnisse von Künstlerkollegen, Förderern und Freunden, Aktdar Stellungen und die so typischen graphischen Blätter, die wie ein Psychogramm gelesen werden können, bilden ein lang nicht mehr erlebbares Gesamtbild jenes großen Künstlers des 20. Jahrhunderts.

Neben zentralen Werken wie «Das kranke Mädchen», «Der Kuss» oder dem lithographischen Zyklus «Alpha und Omega» runden unbekanntere Arbeiten, Vorstudien und in Grafiken verwandelte Motive aus Gemälden das Bild der Ausstellung ab. An die Schau von 1929 anknüpfend, lassen sich in Exponaten aus vierzig Schaffensjahren stilistische Entwicklungslinien, persönliche Krisen und Brüche, künstlerische Beziehungen zum Beispiel zu den deutschen Expressionisten nachvollziehen.

Eine kleine und sehr angenehme Zugabe ist eine Präsentation grafischer Blätter, in denen sich heutige Chemnitzer Künstler mit Munch auseinandersetzen. In den Ar beiten von Steffen Vollmer, Thomas Ranft, Michael Morgner, Dagmar Ranft-Schinke und Gudrun Höritzsch wird der Bogen zwischen Munch und Chemnitz bis ins Heute gespannt. Einziger Wermutstropfen der Schau ist die Hängung der Werke, die vielleicht zu stark den Vorgaben von 1929 folgt und auf diese Weise einigen Arbeiten die Kraft nimmt. Blätter wie Munchs Selbstporträt von 1895 oder «Madonna» verlieren in der Reihung neben thematisch ähnlichen Motiven ihre konzentrierte Ausstrahlung und werden zu Ar beiten unter vielen. Auch die in den Ober lichtsälen gehangenen Gemälde scheinen manchmal unglücklich und zu vorder gründig motivlich gruppiert. Man wünschte sich, die Chemnitzer Ausstellungsmacher wären mehr dem eigenen Gefühl gefolgt und hätten eine Choreografie entwickelt, die den inzwischen vergangenen Jahrzehnten und der daraus entstandenen Symbolkraft einzelner Wer ke und Zvklen Rechnung trägt.

Nichtsdestotrotz ist die Munch-Ausstellung in Chemnitz wohl eine der erlebnisreichsten des gerade angebrochenen Jahres.

Kunstsammlungen Chemnitz am Theater platz: Edvard Munch in Chemnitz. Bis 20. Februar, Di-So 11-21 Uhr. Zur Ausstellung erscheint ein umfangreicher Katalog.

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