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  • Politik
  • Schriften des US-amerikanischen Philosophen Eric Hoffer über Intellektuelle und ihre Verführbarkeit

Wenn Massen »Freiheit« schreien ...

  • Lesedauer: 4 Min.

Von Frank Ufen

Sokrates soll ein Arbeiter gewesen sein, nicht wahr? Ein Steinmetz oder so etwas. Aber das ist nicht die Art, wie ein autodidaktischer Maurer argumentieren würde - er würde Geschichten erzählen, um seine Auffassungen zu illustrieren.»

Wie immer es sich mit Sokrates verhalten mag - der Autor dieser ketzerischen Zeilen, der US-amerikanische Sozialphilosoph Eric Hoffer war ein purer Autodidakt und ein großer Geschichtenerzähler. Obwohl er zweifellos einer der eigenwilligsten politischen Philosophen und Psychologen seiner Zeit war, ist er heute fast vergessen. Dabei war dieser ewige Gelegenheitsarbeiter, der als Sohn elsässischer Einwanderer 1902 in der Bronx geboren wurde, in den Vereinigten Staaten der 50er und 60er Jahre ein überaus gefragter und populärer Autor und Redner. Obwohl er nie eine Schule von innen gesehen hat, veröffentlichte er elf Bücher, brachte es zum Starjournalisten, und einige Zeit war er als Dozent an der Universität Berkeley tätig. 1951 erschien «The True Believer» und machte ihn mit einem Schlag berühmt. Das Buch verkaufte sich 400 000 Mal und wurde in zwölf Sprachen übersetzt. Die deutsche, hier wieder abgedruckte Fassung erschien 1965 bei Rowohlt.

Hoffers Generalthema, um das sämtliche seiner Überlegungen unablässig kreisen, sind die Massenbewegungen der Moderne. Ihnen - glaubt Hoffer herausgefunden zu haben - sind bestimmte elementare Eigenschaften gemeinsam. Gleichgültig, ob es sich um solche religiöser, nationalistischer oder sozialrevolutionärer Art handelt (was alle Massenbewegungen im Wesentlichen auszeichnet), ist ihr irrationaler Charakter, den er wiederum bedingt sieht durch die psychischen Dispositionen, die sowohl für ihre Initiatoren und Organisatoren als auch für ihre frühesten und glühendsten Anhänger charakteristisch sind.

Von diesen irrationalen psychischen Dispositionen - Fanatismus, Intoleranz, Hass, Machtgier usw. - nimmt Hoffer an, dass sie in ihrem Kern von gesellschaftlichen Umwälzungen unberührt bleiben. Vor seinem durchdringend bösen Blick findet deshalb keine Massenbewegung Gnade. Alle Massenbewegungen werden nach Hoffer von Intellektuellen geistig vorbereitet, von Fanatikern ins Rollen gebracht und von Tatmenschen schließlich in geordnete Bahnen gelenkt. Mit den Tatmenschen setzt sich Hoffer hier nicht weiter auseinander, obwohl er ihnen noch die meisten Sympathien entgegenbringt. Hingegen kommen die Intellektuellen generell schlecht bei ihm weg. Ihnen wirft er nicht zu Unrecht vor, allzu häufig sich selbst Und andere über ihre wahren Absichten zu täuschen: Das, was sie in Wahrheit antreibe, seien nicht hehre Motive, sondern der Hunger nach Macht, Prestige und sozialer Anerkennung. Insgeheim verstünden sie sich als Geistesaristokraten, woraus sie ein Anrecht darauf abzuleiten glaubten, in der Gesellschaft eine herausgehobene Stellung einzunehmen.

«Es ist bemerkenswert», sagt Hoffer, «wie sehr die Einstellung des Intellektuellen gegenüber der Masse der Einstellung eines Kolonialbeamten gegenüber den Eingeborenen ähnelt.»

Die Fanatiker als die treibenden Kräfte jeder Massenbewegung haben nach Hoffer vor allem eines gemeinsam: Es sind tief Frustrierte, die ihr Leben als endgültig verpfuscht und vertan ansehen. Was sie zu den Massenbewegungen hinzieht, ist das Verlangen nach Selbstentsagung und Selbstaufopferung. Weil diese zu kurz Gekommenen jedes Selbstvertrauen und jede Orientierung verloren haben, sind sie bereit, sich mit Haut und Haaren einer Bewegung zu verschreiben und für die von ihr propagierte «heilige Sache» zu kämpfen und zu sterben. Weil ihnen ihr Ich ver hasst ist, verdammen sie alles, was seine Wurzeln im Ich hat, und verfolgen alle mit ihrem rfass, an denen sie verleugnete und verdrängte Anteile ihres Ichs entdecken. Weil sie dazu neigen, die Gegenwart radikal zu entwerten und sich aller Bindungen an sie zu entledigen, haben sie völlig ir reale Vorstellungen von den Aussichten und Möglichkeiten der Zukunft.

Was die Fanatiker antreibt, sind nicht materielle und ideelle Interessen oder Besitzstände, sondern «Dinge, die nicht sind» - irrationale Hoffnungen. Wenn fanatisierte Massen nach Freiheit schreien, behauptet Hoffer, so allein deshalb, weil sie in Wahrheit eine Gesellschaft einführen wollen, in der endlich der freie Wettbewerb, für den sie nicht gerüstet sind, abgeschafft ist.

Hoffer räumt ein, dass Massenbewegungen immerhin dazu nütze sind, ver krustete Gesellschaftsstrukturen aufzubrechen. Doch in letzter Instanz sind sie für ihn nur Symptome gesellschaftlicher Pathologien. Auf seine alten Tage hat er die Befreiungsbewegungen der Schwär zen in den USA ebenso vehement verur teilt wie die Studentenrevolte, und er hat sich für eine unerbittliche Kriegführung gegen die Vietcong ausgesprochen. Der Selfmademan Hoffer denkt sehr amerikanisch darin, dass er die Individuen für ihr Scheitern selbst verantwortlich macht. Sein ganzer Erklärungsansatz ist ebenso unhistorisch wie unsoziologisch. Doch seine sozialpsychologischen Einsichten, die nicht selten die Tiefgründigkeit und Hellsichtigkeit Nietzsches erreichen, gehören zum Besten, was das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Ein herausragendes Buch ist wieder zu entdecken.

Eric Hoffer- Der Fanatiker. Und andere Schriften. Mit einem Nachwort von Wolfgang Heuer. Eichborn Verlag. Frankfurt a. M., 311 S.. geb., 49.50 DM.

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