Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

  • Politik
  • Buchpremiere. »Ostrockgeschichten«

Fundgrube

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.

Manchmal, so scheint es, werden auch heute noch Kinderwünsche wahr. Der 33-jährige Christian Hentschel jedenfalls hat es geschafft. Vor ihm liegt ein dicker Band. »Du hast den Farbfilm vergessen« steht auf dem Titel, und »Ostrockgeschichten« stehen darin. Das Buch ist eine in Interviewform gehaltene Fundgrube zur DDR-Rockmusik. Hentschel sagt, er habe sich mit den Musikern getroffen, die ihm am sympathischsten waren und nach 450 Seiten Schluss gemacht. Dieter Birr von den Pudhys muss ihm am sympathischsten gewesen sein; das Gespräch mit ihm steht am Anfang. Später kommt Veronika Fischer zu Wort, Musiker von Karat, City, Silly, Solisten wie Hans die Geige, Andre Herzberg, Dirk Michaelis, Dirk Zöllner und auch Nina Hagen (deren Lied den Titel gibt) äußern sich. 26 Musikergrößen, dazu der Texter Kurt Demmler, die Rundfunkproduzentin Luise Mirsch und Amiga-Mitarbeiter Wolf-Dietrich Fruck lassen eine vergangene Welt wieder aufleben.

Mit den Namen fallen einem die Songs ein, mit den Songs werden Stimmungen wieder erweckt. In den Interviews wird an alte Geschichten erinnert, bisher unbekannte Verbindungen werden offenbart. Wem war schon bekannt, dass Fritz Puppel von City und der spätere Puhdy Dieter »Maschine« Birr bei den Luniks zusammen spielten. Puppel musste zur NVA, die Luniks lösten sich auf; statt 35 Jahre Luniks hieß es kürzlich 30 Jahre Puhdys. Überhaupt fällt auf, wie sehr die Armee DDR-Rockgeschichte schrieb. Toni Krahl kam nur zu City, weil der erste Sänger, Emil Bogdanow, vor dem drohenden Wehrdienst nach Jugoslawien flüchtete. Die erste Band von Mike Schafmeier (bei Silly mit »Du bist der letzte Kunde« republikweit bekannt geworden) zerfiel wegen der Einberufung. Jessica musste eine mehrjährige Pause einlegen. Andererseits lernte Dirk Zöllner während seiner Ar meezeit Gitarre. Die Musiker von Rock haus konnten ihren Wehrdienst sogar gemeinsam ableisten und das kulturelle Niveau ihrer Einheit anheben. Der umtriebige Ex-Puhdy Günther Wosylus hatte da seine Hände im Spiel.

Spannend auch die Ost-West-Verbindungen. Udo Lindenberg wollte schon 1986 die Frauenband Mona Lise in den Westen holen. Holger Biege hatte vier Jahre, bevor die Humpe-Schwestern mit »Codo« einen Riesenhit landeten, eine Musik geschrieben, die dieser verdammt ähnlich klang. Tja, und Annette Humpe musste sich von Rechts wegen das Prädikat »Entdeckerin« der Prinzen zu sein, mit der DDR-Rundfunk-Produzentin Luise Mirsch zumindest teilen. Das bedeutende Zusammentreffen befindet sich auf Seite 298. Achim Mentzel sieht man da als Gitarristen von Fritzens Dampferband. Dahinter Udo Lindenberg am Schlagzeug. Als Tourist nach Berlin-Ost gekommen, ließ er es sich nicht nehmen, ein paar Lieder mit der Band zu spielen, die Nina Hagens »Farbfilm«-Hit ins Fernsehen brachte. Das Bild, daneben zeigt Nina mit der Dampferband.

»Du hast den Farbfilm vergessen« ist ein Buch zum Schmökern. Christian Hentschel hat es voller Liebe zu seinen »Objekten« verfasst. Bei der Präsentation im Friedrichshagener »Bräustübl« sitzt er still, mit einem nach innen gekehrten Lächeln neben Veronika Fischer auf dem Podium. Er ist angekommen in seinem Traum. Als er acht Jahre alt war, schenkte ihm Vroni einen Aufkleber - seine Infizierung mit »Ostrock«. Jetzt ist ein Buch daraus geworden. Und ein Geschenk an alle, die die Musik ihrer Jugend sich wieder in Erinnerung rufen wollen. Frau Fischer meint zum Abschluss, man sehe wieder mal, wie wichtig es sein kann, Kindern ihre Bitten zu erfüllen.

Christian Hentschel: Du hast den Farbfilm vergessen und andere Ostrockgeschichten. Schwarzkopf und Schwarzkopf Verlag, 448 Seiten, Broschur, 39,80 DM.

Wir sind käuflich.

Aber nur für unsere Leser*innen. Damit nd.bleibt.

Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen

Werden Sie Teil unserer solidarischen Finanzierung und helfen Sie mit, unabhängigen Journalismus möglich zu machen.

- Anzeige -
- Anzeige -