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Über 150 000 Tote durch legale Drogen

Suchtbericht Industrie blockiert seit Jahren effektive Maßnahmen gegen Tabak und Alkohol Von Nils Floreck

  • Lesedauer: 3 Min.

Jeder zweite deutsche Mann im mittleren Alter hat Alkoholprobleme. Gesundheitliche Risiken und soziale Probleme bis zur Entwicklung einer Abhängigkeit sind die Folge. Darauf hat die Deutsche Hauptstelle für Suchtgefahren (DHS) gestern bei der Vorstellung ihres Jahresberichtes verwiesen. Deutschland gehört auch in diesem Jahr zur Weltspitze, was den Alkoholkonsum angeht. Jeder Bundesbürger, vom Säugling bis zur Greisin, nimmt im Jahr durchschnittlich 10,6 Liter reinen Alkohol zu sich. Umgerechnet auf die relevanten Bevölkerungsgruppen von 18 bis 69 Jahren bedeutet das für jeden vier Gläser Bier oder Wein am Tag. 2,7 Millionen Menschen betreiben Alkoholmissbrauch, weitere 1,6 Millionen Frauen und Männer seien abhängig.

Zudem seien 6,8 Millionen Bundesbür ger als abhängige Raucher einzustufen. Durch Tabak sterben jährlich 110 000 Personen, 42 000 sterben direkt oder indirekt an den Folgen von Alkoholmissbrauch. Von den rund 800 000 Menschen, die jährlich in der Bundesrepublik ster ben, hätten also 150 000 länger leben können. Wer unter alkohol- und tabakbedingten Krankheiten leidet, stirbt 20 Jahre früher als der Durchschnitt, sagte Jost Leune, stellvertretender Vorsitzender der DHS. Die Ziffer bei den Rauschgiften (gemäß Betäubungsmittelgesetz) liegt im Vergleich dazu bei rund 2000 Todesfällen. Eine vorsichtige Umorientierung bei der Drogenpolitik der Bundesregierung kann Rolf Hüllinghorst, Geschäftsführer der DHS, auch erkennen. Die Politik konzentriere sich nicht mehr allein auf die so genannten illegalen Drogen, sie thematisiere auch Alkohol und Tabak. Allerdings geht Hüllinghorst die Veränderung nicht weit genug. Nach wie vor verhinderten Industrie und Wirtschaftspolitiker effektive Maßnahmen gegen Alkohol und Tabak. Seit 1997 gebe es einen Maßnahmenkatalog der EU zur Eindämmung des Alkoholkonsums. Auf Druck der Industrie werde dieser fast überhaupt nicht umgesetzt. Dabei seien konkrete Maßnahmen überfällig.

Hüllinghorst forderte insbesondere eine Erhöhung der Preise über eine zweckgebundene Abgabe, die der Prävention dienen soll. Die Alkohol- und Tabakindustrie gibt jährlich 1,6 Milliarden Mark für Wer bung aus. Dem stehen ganze 25 Millionen Mark entgegen, die Bund und Länder zur Präventions- und Aufklärungsarbeit zur Verfügung stellen. Der DHS-Geschäftsführer forderte deshalb ein klares Werbever bot für Alkohol und Tabak. Bei 150 000 Toten im Jahr sei nicht einzusehen, warum für diese Stoffe noch geworben wer den soll. Hüllinghorst forderte auch eine Verringerung der Verfügbarkeit. Schließlich sei es nicht notwendig, an jeder Tank stelle rund um die Uhr Alkohol anzubieten.

Auf die besonderen Suchtprobleme von Frauen verwies Alexa Franke, die Vorsitzende der Drogen- und Suchtkommission beim Bundesgesundheitsministerium. Unterschiede im Suchtverhalten der Frauen zwischen Ost und West seien nicht erkennbar. Vielmehr spielen Faktoren wie der soziale Status und die Bildung eine entscheidende Rolle. Franke betonte, dass Medikamentenmissbrauch bei Frauen häufig auf Fehlverhalten der Ärzte zurückzuführen sei. Frauen würden beim Arztbesuch oft nicht ernstgenommen. Statt wirklich auf ihre Probleme einzugehen, neigten viele Ärzte dazu, die Patientinnen mit Medikamenten ruhigzustellen. Da die Probleme weiterbestünden, bestehe hier die Gefahr der Abhängigkeit, so Franke. Abhängigkeit entstehe also durch ein falsches Verschreibungsverhalten der Ärzte und nicht durch ein Fehlverhalten der Frauen.

Franke forderte, in der Forschung das Suchtverhalten von Frauen stärker zu berücksichtigen. Die Suchtforschung sei in Deutschland und auch weltweit nahezu ausschließlich auf Männer fixiert. Außer dem müsse Medikamentenabhängigkeit stärker im Zusammenhang mit der medizinischen Versorgung betrachtet werden. Franke fordert weiter, den Alkoholkonsum von Frauen nicht länger zu bagatellisieren. Es gebe für sie viel zu wenig Rehabilitationsplätze. Allein erziehende Frauen mit Kindern seien in den Konzepten meist überhaupt nicht vorgesehen. Dabei seien alkoholabhängige Mütter mit Kindern unter 18 Jahren in mehr als der Hälfte der Fälle allein erziehend und müssten die Erziehungsaufgaben ohne Unterstützung eines Partners bewältigen.

Jahrbuch Sucht 2001 288 Seiten, 27 Mark, Bezug über Neuland-Verlag, Geesthacht, Tel.. (04152) 813 42. Internet, www.neuland.com

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