Mindestens 300 000 Guyaner leben in den USA, Kanada, Großbritannien oder der Karibik Nur 750 000 sind in der Heimat geblieben - zu einem beachtlichen Teil zwangsweise Doch wer nur Schatten sieht in dem sonnigen Tropenland, tut ihm Unrecht
Ingolf Bruckner
Lesedauer: 6 Min.
In der Pfanne brutzelt die Leber. Es ist kurz nach Mitternacht. Draußen, vor dem Schuppen, dem Stelzenhaus, im blauen Garten, steigen Leuchtkäfer auf. Überall raschelt und wispert es - das sind die Ratten, die Ochsenfrösche, die Geister der Toten, die aus ihren Sumpfverstecken kriechen. Saymore Ramrattan steckt sich eine im Zeitungsschnipsel gedrehte Zigarette an, atmet tief: Es war gar nicht einfach, das große gefrorene Stück Leber durchzuhacken. Es ging nicht mit dem Messer, es ging auch nicht mit dem Hammer, sondern erst mit der 18 Zoll langen Machete, die der 32-jährige Guyaner unter seiner Matratze aufbewahrt - gegen Einbrecher.
Wir befinden uns sechs Fuß unterm Meeresspiegel, im Zentrum von Georgetown, der Hauptstadt des südamerikanischen Staates Guyana, nahe der Mündung des milchkaffeebraunen Demerara-Flusses in den milchkaffeebraunen Atlantischen Ozean. Vor 200 Jahren strich, wo heute schiefgewitterte Wracks ehemals schneeweißer viktorianischer Edelholzhäuser aus dem Schwemmland ragen, noch der Passat über schier endlose Zuckerrohrfelder, auf denen afrikanische Sklaven erst für Niederländer, dann für Engländer rackerten. Die niederländischen Kolonisten galten als besonders grausam. Darum verwundert es wenig zu hören, dass manche von ihnen noch an den von knorrigen Bäumen gesäumten dickflüssigen Kanälen, die einst ein ausgeklügeltes Entwässerungssystem bildeten, oder in den Obst- und Gemüsegärten der Städter ihren Spuk treiben.
»Meiner ist lang und dünn; er kommt im Hinterhof zwischen den Kokospalmen und Feigenbananen hervor und geht ruhelos auf und ab. Er trägt einen Zylinder, aber das Schockierendste: Sein Gesicht ist weiß wie Kreide!« Das erzählte Rasa Singh. Irgendwann reichte es ihr. Sie ging zum Obeahman, dem Geisterbeschwörer, und folgte seinem Rat: Jährlich sprengte sie den Inhalt einer Flasche El-Dorado-Rum an die vier Pfosten ihres Hauses und verbrannte einige Zigarren. Und der Geist verschwand.
Mittlerweile ist auch Rasa Singh weg - bei ihrer Tochter, in New York. Und alles, was die reife, in Kochkünsten sehr bewanderte Dame ihrem Hausmeister Saymore zurückgelassen hat, ist neben einem Fass Reis der Klumpen gefrorener Leber, der ihn nun schon eine Woche ernährt.
Frau Singh ist nicht die einzige Guyanerin, die emigriert ist. Mindestens 300 000 ihrer Landsleute leben inzwischen in den USA, in Kanada, Großbritannien oder in der Karibik. Nur 750 000 sind in ihrer Heimat verblieben - zu einem beachtlichen Teil zwangsweise. Denn die Konsulate der potenziellen Einwanderungsländer tun sich schwer selbst bei der Vergabe von Touristenvisa.
Das schreckt die Guyaner aber nicht: Sie erdenken immer neue Schleichwege, die aus dem Elend nach Norden, in die Wohlstandsgesellschaft führen. Und dann gibt es die, die es schon mal geschafft hatten. Georgetown ist voll von ihnen: den Deportierten. Man trifft sie an jeder Ecke, und man sieht ihnen die Bitterkeit von weitem an. Da ist der abgerissene Ingenieur mit kalifornischer Fahrerlaubnis, der ziellos auf dem Deich umherläuft und Hindus wie Muslime zu Jesus führen möchte. Da ist der schweigsame einstige Chicagoer Krankenhausmanager, der nur noch selten seine verrottende Holzbude verlässt - wenn er die monatliche Geldsendung seiner Verwandten abholt. Und da ist Saymore. Der hat schon ein Leben hinter sich, und was heute übrig ist von ihm, ist, scheint es manchmal, nur ein Phantom.
Das Phantom wohnt in einem verwinkelten Schuppen an der Seite des Mietshauses, das nach wie vor der knallharten Geschäftsfrau Rasa Singh gehört, die mittlerweile eine Kammer in der Bronx bezogen hat und bei reichen US-Amerikanern die Fußböden wischt - gegen vergleichbar gute Bezahlung. Frau Singh war es, die Saymore vor Obdachlosigkeit bewahrte. »Ich weiß nicht, wie man Leber zubereitet«, sagt der, »ich weiß überhaupt nicht, wie man kocht.« Aber es zeigt sich: Wer Hunger hat, lernt schnell. Jedenfalls die Leber schmeckt. Und weil Mitternacht vorüber ist, zeigt Saymore Fotos von früher und erzählt aus Miami, Florida, wo seine Mutter wohnt, wo er drei niedliche Kinder hat und früher einen Chevrolet Century besaß - nebst einem guten Job in einer Autowerkstatt, einer hübschen Frau, einigen lässigen Sommeranzügen, Sonnenbrillen und dickem Goldschmuck.
»Die Diskos in Miami waren edel«, erinnert sich Saymore mit glänzenden Augen, »nur einmal sprang eine Kugel von der Wand ab und erwischte mich am Ohr.« Er zeigt mir die Narbe. »Die Latin Kings wollten, dass ich bei ihnen mitmache, die Latin Scorpions wollten, dass ich bei ihnen mitmache, aber weißt du, diese Bandengeschichten waren nie mein Ding.«
Warum Saymore vor vier Jahren deportiert wurde, darüber will er nicht reden. Zurück in Guyana verdiente er in einer Sicherheitsfirma als Wachmann hundert Dollar im Monat - so viel pflegte er in Miami in einer einzigen Diskonacht auszugeben. »Wachschutz ist die einzige Branche, die hier boomt«, meint er resigniert, »wegen der hohen Kriminalität.« Nach einem Streit kündigte man ihm. Rasa Singh nahm ihn auf - damit er nach dem Rechten in ihrem Mietshaus sähe. So bleibt Saymore viel Zeit - zum Träumen und zum Planen.
Einen Strich durch den letzten seiner Pläne machte ihm niemand anderes als Katrina. Saymores Mutter hatte schon alles vorbereitet: Sie hatte ihm Geld geschickt und ein Flugticket via Barbados nach Jamaica. Doch als er in Barbados zwischenlandete, ging keine Maschine mehr raus: Hurrikanwarnung! Nach zwei Tagen erst gelangte er nach Kingston. Von hier sollte ein Boot gehen - »backtrack, hinten rum« - in die USA, das gelobte Land. Aber das Boot konnte nicht fahren, Katrinas wegen. Der Sturm ließ sich so lange Zeit, bis Saymore all sein Geld aufgezehrt hatte und den ungeliebten Rückflug anzutreten gezwungen war.
Wieder nach Guyana - in jenes unterentwickelte, äußerst spärlich besiedelte Dschungelgebiet von der Größe der Insel Großbritannien, zurück in den Staat, der seit Überwindung der englischen Kolonialzeit um seine nationale Identität ringt und in den 80er Jahren unter dem Autokraten Forbes Burnham international völlig isoliert in tiefster Armut versank. Nach Guyana, mit seinen alltäglichen Spannungen zwischen den beiden großen Volksgruppen, den Afro-Guyanern, Nachfahren ehemaliger Sklaven, und den Indo-Guyanern, deren Ahnen von den Briten nach der Sklavenbefreiung als Kontraktarbeiter aus Indien importiert worden waren, um Plantagenarbeit zu verrichten.
In Georgetown herrscht ein rauher Ton. »Nur die Ratten sind fett bei uns. Wer kein Geld hat, muss wenigstens cool sein. Ja, cool sein ist alles«, sagte Taxifahrer Ray Shakespeare heute morgen zu mir, »wer nicht cool ist, überlebt nicht lange. Das Geschäft ist hart, die Jungs, die die Geschäfte machen, sind hart. Wer nicht ab und zu seine Krallen zeigt, wandert besser aus.«
Doch wer nur Schatten sieht im doch so sonnigen, tropischen Guyana, das gerade den 40. Jahrestag seiner Unabhängigkeitserklärung beging, der tut dem Land unrecht. Denn hier lagern reiche Schätze: Erdöl, Bauxit, Gold, Diamanten, Edelholzreserven, Wasserkraft. Trotz hoher Arbeitslosigkeit, fortwährender Rückschläge und zeitweilig bürgerkriegsähnlicher Zustände hat sich in den letzten zehn Jahren die Situation deutlich gebessert - und der Trend hält an: Es wird investiert und gebaut, wenn auch mit Geld aus Übersee. Schon nennt mancher das Land »Klein-Amerika«. Wo Mitte der 90er Jahre noch Pferdefuhrwerke dominierten, stehen heute Geländewagen, Taxis und Minibusse im Stau. Neue Wohngebiete werden aus dem Boden gestampft, ebenso wie ein großes Stadion für die anstehende Kricket-Weltmeisterschaft.
Jetzt ist das letzte Stück Leber dieser Nacht verzehrt, und Saymore ist zufrieden, kein Phantom mehr, sondern Mensch, rollt sich noch eine Zigarette, schlägt sich auf die Brust und ruft: »Me is de Baby!« Ich bin das Baby, das Große Baby! Mit Baby meint er so viel wie »Boss«. »Weißt du, was das Wichtigste ist im Leben? Dass du dich selbst liebst. Und ich liebe mich am meisten! Ich bin das Baby! Ich!« Er schreit und freut sich. Einer der Mieter im Stelzenhaus klopft gegen die Diele und schimpft über die Ruhestörung. Die Ratten im blauen Garten sind still.
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