Maries Liebe

Katharina Hartwell und das «fremde Meer»

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 3 Min.

Lange Zeit«, sagt Marie, »habe ich nicht gewusst, was ich erzählen soll, denn ich muss sparsam mit unseren Geschichten sein: Ihre Zahl ist endlich. Die Geschichte Pauls, die Geschichte der Spinnen, die Geschichte des Fahrrads lassen sich alle bloß ein Mal erzählen, und wir werden einige tausend Meilen reisen müssen, bis zum Rand der Welt und wieder zurück, bevor es mir möglich sein wird, auch die letzte Geschichte zu erzählen.« Ein Zitat, das Katharina Hartwells ganzen Roman enthält: die Liebesgeschichte zwischen Jan und Marie, die den Rahmen von »Das Fremde Meer« bildet, und die zehn, in unterschiedlichen Genres erzählten Texte, von der historischen Erzählung bis zum Märchen.

Nachdem sie kurz von ihrer Kindheit berichtet hat, beginnt Marie mit einer Science-Fiction-Story. In »Die letzten Tage der Wechselstadt« können aufgrund neuester quantenphysikalischer Erkenntnisse Häuser immaterialisiert und an anderer Stelle wieder materialisiert werden. Ein Verfahren, das zu ständigen Änderungen der äußeren Welt führt. Gebäude verschwinden und tauchen plötzlich an anderer Stelle wieder auf. Manchmal werden auch Menschen immaterialisiert, obwohl die Folgen für Körper und Psyche nicht erforscht sind. Und manchmal verschwinden auch Dinge. Jonas, ein ehemaliger Mitarbeiter der sogenannten »Hauswacht«, und Moira ziehen auf der Suche nach einem goldenen Engel, dem »Wahrzeichen der Bewegung«, durch die apokalyptische Szenerie. Dass die Namen der beiden die gleichen Anfangsbuchstaben wie Jan und Marie haben, ist kein Zufall. In »Das Fremde Meer« sind bis auf die letzte alle Geschichten literarischer Ausdruck der einen Liebesgeschichte.

Will man diesen Zusammenhang zwischen Rahmenerzählung und Geschichten tiefer gehend erklären, bietet sich die Psychoanalyse an. Hartwell selbst legt das nahe, indem sie beispielsweise die fünfte Geschichte, in der es auf einem Geisterschiff um Fragen des Todes geht, mit einem Freud-Motto beginnt. Für den Begründer der Psychoanalyse setzen sich Kunst und Literatur nicht nur mit bewussten Problemen auseinander, sondern sie sind vor allem Ausdruck unbewusster psychischer Konflikte im Künstler. Ob es um die Befreiung des Prinzen aus dem Winterwald geht oder um Augustine, die berühmte Patientin des Psychiatrie-Pioniers Jean-Martin Charcot, die sich in einen Mitpatienten verliebt, immer werden erzählerisch Maries emotionale Probleme thematisiert. Wie im Traum, mit Freud erklärt, erzählt Hartwells Erzählerin von ihren inneren Nöten - verschoben über eine Geschichte, weil sie es unmittelbar, weil sie es anders nicht sagen kann.

Das alles hätte vielleicht funktionieren können. Doch leider gelingt es Katharina Hartwell nur selten, so zu erzählen, dass die von Marie anfangs erwähnte dünne Substanz aus der sich ihre Geschichten speisen, kompensiert wird. Am Ende scheint ihre Befürchtung richtig: Es gibt einfach nicht genug zu erzählen. Daneben ist der therapeutische Anspruch, den sie im Erzählen sieht, literarisch fragwürdig. In der Hoffnung, sich der letzten katastrophalen Geschichte stellen zu können, will sie, wie im Anfangszitat erwähnt, die restlichen neun erzählen. Das mag für die Erzählerin, vielleicht auch für die Autorin hilfreich sein; für den Leser lässt sich damit aber nicht das Interesse über 560 Seiten aufrecht erhalten.

Katharina Hartwell: Das fremde Meer. Roman. Berlin Verlag. 576 S., geb., 22,99 €.

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