Im Brennpunkt der kapitalistischen Krise

Portugal 40 Jahre nach der Nelkenrevolution: Die soziale Kämpfe nehmen zu, doch eine »Nelkenrevolution reloaded« steht nicht an

  • Ismail Küpeli
  • Lesedauer: 7 Min.

Portugal spielte in den letzten Jahrzehnten – bis zu der gegenwärtigen EU-Krise – in den öffentlichen Debatten in Deutschland eine marginale Rolle. Nur wenige deutschsprachige JournalistInnen und AutorInnen beschäftigten sich mit diesem Land am westlichen Rand Europas. Erst als »PIG«-Staat, also neben Irland und Griechenland ein vermeintlicher Auslöser der EU-Krise, gewann Portugal etwas mehr Aufmerksamkeit. Eine intensive Beschäftigung mit den politischen und ökonomischen Strukturen und Prozessen hat hierzulande allerdings noch nicht stattgefunden. Das Wissen um Portugal beschränkt sich bis heute vielfach auf kulturalistische Klischees, die sich etwa in der Berichterstattung über Krise und soziale Kämpfe in Portugal wiederfinden lassen.

Das Land stand allerdings Mitte der 1970er Jahre im Zentrum politischer (und politikwissenschaftlicher) Debatten, als 1974 die »Nelkenrevolution« die längste Diktatur in Europa unblutig beendete und die »dritte Welle der Demokratisierung« einleitete, in dessen Verlauf nicht zuletzt die Diktaturen in Spanien und Griechenland gestürzt wurden. Die Demokratisierungs- und Transformationsforschung hat sich intensiv und über einen langen Zeitraum mit den Erfahrungen dieser Jahre beschäftigt und daraus geschöpft. Auch in den linken deutschsprachigen Debatten der 1970er und 1980er Jahre waren Portugal und die Nelkenrevolution wichtige Themen, was einige deutsche AktivistInnen damals motivierte, an den postrevolutionären Prozessen teilzunehmen.

Die neoliberale »Krisenbewältigung«, vorgegeben durch die Europäische Union und den Internationalen Währungsfonds (IWF), erzeugt hier weiterhin deutlichen Widerstand. Während in der deutschen Öffentlichkeit die Proteste und Streiks in Griechenland und Spanien Erwähnung finden, ist Portugal vielfach höchstens eine Randnotiz wert – unberechtigterweise.

In Portugal haben sich, angefeuert durch den »arabischen Frühling«, recht früh Massenproteste entwickelt, an denen etwa im März 2011 mehr als 200.000 Menschen teilnahmen. Diese Proteste trugen zum Sturz der sozialdemokratischen Regierung bei. Die Massenbewegungen in Portugal gingen der »Echte Demokratie Jetzt!«-Bewegung in Spanien zeitlich voraus und haben diese sicherlich mit angefeuert. Allerdings hat sich die mediale Aufmerksamkeit auf Spanien beschränkt und die Zusammenhänge mit dem Nachbarland wurden nicht beachtet.

Dabei wäre aus der Analyse der kapitalistischen Krise und der sozialen Kämpfe in Portugal viel zu lernen. Zum einen ließe sich hier die neoliberale »Krisenbewältigung«, die mit der Aushebelung des bürgerlichen Demokratiemodells einhergeht, exemplarisch aufschlüsseln. Ohne sich um ein Mindestmaß an formal-demokratischer Legitimation zu kümmern, werden umfangreiche Eingriffe in die polit-ökonomischen Strukturen vorgenommen, wobei die entscheidenden AkteurInnen in den wenigsten Fällen von der betroffenen Bevölkerung gewählt wurden.

Aus einer gesellschaftskritischen Perspektive sind zum anderen die Fragen danach, wie soziale Bewegungen entstehen und welche Antworten sie auf die Krise und die neoliberale »Krisenbewältigung« entwickeln, interessant. Relevante Fragen an das portugiesische Fallbeispiel wären etwa, wie Massenbewegungen spontan entstehen können und ob und wie sich daraus dauerhafte Strukturen entwickeln. Die unterschiedlichen Organisierungsansätze sind ebenso interessant wie die Frage danach, welche Rolle bereits bestehende Parteien und Gewerkschaften spielen können. Dabei sticht die »Partido Comunista Português« (Portugiesische Kommunistische Partei, PCP) besonders hervor. Die Antworten der orthodox marxistisch-leninistischen PCP provozieren eine Auseinandersetzung darüber, wie eine linke Opposition zu einer von EU und IWF »fremdgesteuerten« Krisenpolitik aussehen kann – oder anders gesagt: Wie können Massenmobilisierungen gelingen, ohne in Linkspopulismus und Standortnationalismus zu verfallen?

Nelkenrevolution reloaded?

Portugal erlebte im letzten Jahrhundert mehrere politische Revolutionen und entscheidende Machtwechsel: Die Monarchie, die über Jahrhunderte das Land beherrschte, wurde 1910 von einer instabilen Republik abgelöst, die nach 16 Jahren durch ein Militärputsch beendet wurde. Das anschließende autoritäre Regime unter António de Oliveira Salazar setzte auf die Aufrechterhaltung des Status quo unter Einbeziehung der politischen und ökonomischen Eliten. Die Salazar-Diktatur sollte sich als eine der langlebigsten Diktaturen in Europa erweisen, trotz zahlreicher Aufstände und Oppositionsbewegungen. Mit den verlustreichen Kolonialkriegen in Angola und Mosambik in den 1960er Jahre wuchs innerhalb des Militärs die Unzufriedenheit mit dem Regime, woraus die klandestine Organisation MFA entstand. Der Putsch der MFA 1974 stürzte die Diktatur und löste die Nelkenrevolution aus. Die Jahre nach der Revolution waren geprägt vom Streit darüber, ob mit dem Erreichen der unmittelbaren Ziele, d.h. dem Ende der Kolonialkriege und der Einführung der Demokratie, der revolutionäre Prozess beendet werden, oder aber der politischen Revolution eine soziale Revolution folgen solle. Nach einer kurzen »sozialistischen« Phase, in der Großgrundbesitzer zugunsten der LandarbeiterInnen enteignet und viele Unternehmen verstaatlicht wurden, setzten sich (mit Unterstützung der hegemonialen westlichen Staaten) die konservativen und sozialdemokratischen Kräfte durch, die Portugal schrittweise an das neoliberale Europa heranführten. Dabei wurden die »sozialistischen« Errungenschaften wieder abgeschafft. Die 1980er Jahre waren in Portugal vom neoliberalen Zeitgeist geprägt, die Märkte wurden liberalisiert, die staatlichen Unternehmen privatisiert. Die konservativen und sozialdemokratischen Regierungen setzten auf Exportindustrien auf Basis billiger Löhne im Inland. Der ökonomische Wachstum und die finanziellen Unterstützungen der EWG führten zu einem größeren Wohlstand in Portugal. Dies sorgte mitunter dafür, dass in diesen Jahren Portugal politisch ruhig blieb und größere Protestbewegungen ausblieben.

Diese Tendenz kehrte sich Ende der 1990er Jahre um, nicht zuletzt dadurch, dass andere Länder, wie etwa die Türkei, ebenfalls auf Exportindustrien bei niedrigen Löhnen setzten und Portugal in vielen Sektoren aus dem Markt drängten. Der Einbruch des ökonomischen Wachstums ging einher mit Betriebsschließungen und Massenentlassungen. Mit einer vagen Hoffnung auf eine Wiederkehr des Wirtschaftswachstums verschuldeten sich der portugiesische Staat und die Menschen im Lande. Die Weltwirtschaftskrise 2007 beendete diese Hoffnungen.

Abgeschnitten von weiteren Krediten musste Portugal neoliberale Austeritätprogramme unter der Leitung der Troika (EU-Kommission, Europäische Zentralbank und IWF) umsetzen, die mit steigenden Lebenshaltungskosten und sinkenden Einkommen für die Mehrheit der Bevölkerung einhergingen und -gehen. Diese Verschlechterung der Lebensverhältnisse führte ab 2010 zur Entstehung von sozialen Protestbewegungen gegen die Austeritätspolitik und gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik der EU. Die neuen Bewegungen und AkteurInnen, die insbesondere prekarisierte junge ArbeiterInnen mobilisierten, bilden inzwischen neben der traditionellen linken Opposition (PCP, BE und CGTP) eine wichtige Säule. Auch die Werkzeuge und Methoden der sozialen Opposition haben sich erweitert: Neben Demonstrationen und Streiks finden wieder Besetzungen statt, wie etwa die Es.Col.A in Porto. Die Radikalität wächst ebenfalls, nicht zuletzt ablesbar an den zunehmenden Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und der Polizei.

Die gegenwärtige Krise und der Widerstand gegen die hegemoniale neoliberale Politik in Portugal machen deutlich, wie fragil die scheinbar unüberwindbaren politischen und ökonomischen Strukturen sind und wie schnell soziale Bewegungen entstehen (und wieder zusammenbrechen) können. Es wird ebenfalls deutlich, dass die sozialen Kämpfe kein Halt machen vor nationalen Grenzen. Die ökonomischen Prozesse sind bereits seit längerem europaweit vernetzt und auch die Politik »von oben« lässt sich kaum noch auf nationaler Ebene fassen. Die Internationalisierung der sozialen Bewegungen wird ebenfalls folgen (müssen), ein Prozess der in Ländern wie Portugal bereits eingesetzt hat.

Allerdings wird, gerade auch in linken Medien, bisweilen die Zunahme der sozialen Kämpfe mit der Erwartung einer neuen »Nelkenrevolution« verknüpft. Dies wird auch dadurch gefördert, dass die Nelkenrevolution von 1974 in Portugal immer noch ein wichtiger (symbolischer) Bezugspunkt ist und Symbole der Nelkenrevolution auch bei Protesten immer wieder auftauchen. Aber von einer »Nelkenrevolution reloaded« zu sprechen, wäre trotz der zunehmenden Kämpfe nicht richtig.

Weder haben die linken Oppositionskräfte, seien es die traditionellen oder die neu entstehenden, die Macht, die Regierung zu stürzen, noch sind die internationalen Machtstrukturen die gleichen wie 1974. Während damals der Sturz der Salazar-Diktatur in Europa begrüßt und unterstützt wurde, ist es diesmal die Europäische Union, die antidemokratische Politiken einfordert. Heute steht Portugal nicht vor einer Neuauflage der Revolution von 1974, sondern vielmehr stehen die sozialen Bewegungen (nicht nur in Portugal) vor der schwierigen Aufgabe, die neoliberale Hegemonie in Europa zu überwinden und die Verschlechterung der Lebensverhältnisse für breite Bevölkerungsteile abzuwenden.

Auszug aus: Nelkenrevolution reloaded? Krise und soziale Kämpfe in Portugal von Ismail Küpeli, erschienen in der Reihe »Systemfehler« der edition assemblage. Mehr zum Buch und zum Verlag, dem wir für die Möglichkeit danken, diesen Text zu dokumentieren, finden sich hier und unter www.edition-assemblage.de.

Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler und Aktivist, er ist unter anderem in der Bundeskoordination Internationalismus engagiert. Er lebt derzeit in Portugal und begleitet die sozialen Bewegungen vor Ort solidarisch und kritisch und berichtet regelmäßig über die Folgen der Wirtschaftskrise und die Proteste gegen die neoliberale Krisenpolitik.

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