Hochhaus schlägt Schrebergarten

Zeitungszusteller wollen keine Ausnahme beim Mindestlohn sein

  • Anja Krüger
  • Lesedauer: 4 Min.
Zeitungszusteller arbeiten früh, schnell und am besten effektiv. Trotz dieser hohen Anforderungen bleibt ein faires Entgelt auf Mindestlohnniveau in weiter Ferne.

Halb vier Uhr morgens in der Kölner Innenstadt. Vor einem Einkaufzentrum stehen vier Männer und eine Frau. Sie warten auf den Lieferwagen, der die Zeitungen bringt. »Wenn die nicht pünktlich sind, müssen wir rennen«, sagt ein Mann in roter Jacke. Anstelle des Lieferwagens hält ein blauer VW, heraus springt ein sehr schlanker Mann in schwarzer Joggingmontour. Es ist Daniel Hirschi, der Kollege vom Betriebsrat. Die anderen grüßen freundlich. »Was macht die Tochter, spricht sie schon«, will einer wissen.

Hirschi ist einer der rund 300 000 Zeitungszusteller in Deutschland und einer der ganz wenigen Betriebsräte in der Branche. Auch der 35-Jährige wartet hier auf die Zeitungen. Endlich kommt der weiße Lieferwagen. Zwei Frauen packen Dutzende in Folie eingeschweißte Pakete aus. An den Nummern auf den Blättern, die unter dem Plastik liegen, erkennen die Zusteller, welche Pakete für sie sind. Hier steht auch, welches Abo ausläuft oder beginnt. »Es ändert sich fast jeden Tag etwas«, sagt Hirschi. Im nächsten Jahr hat er sein zehnjähriges Dienstjubiläum bei der Zustellgesellschaft RZZ Köln, einer 100-prozentigen Tochter des Verlagshauses M. DuMont Schauberg.

An diesem Morgen packt er seine Zeitungen rasch in sein Auto. Er sortiert sie beim Einladen in der Reihenfolge, in der er sie austragen wird. Ob es regnet, schneit oder stürmt - die Zeitungen müssen bis 6.30 Uhr bei den Kunden sein. »Zeitungszustellen ist ein knochenharter Job«, sagt Hirschi. Ihn und seine Kollegen ärgert, dass sie bei der Einführung des Mindestlohns außen vor bleiben sollen. »Unsere Löhne sind nicht tarifvertraglich gesichert«, sagt er. »Deshalb sind wir immer von Kürzungen bedroht.«

So wie im Jahr 2009, als der Arbeitgeber über Nacht den Lohn um durchschnittlich sieben Prozent gekürzt hat. Damals ist Hirschi der Gewerkschaft ver.di beigetreten und hat mit Kollegen einen Betriebsrat gegründet. Um den Widerstand zu brechen, wurde die Zustellgesellschaft mit mehr als 3000 Beschäftigten in vier Firmen aufgespalten, in drei davon gründeten die Beschäftigten trotzdem einen Betriebsrat. In diesen Firmen sind die Löhne seitdem über Betriebsvereinbarungen geregelt.

Die Zusteller werden pro Stück bezahlt. Sinkt die Zahl der Abos, verdienen sie weniger - niemand zahlt einen Ausgleich. Die Verdienststruktur ist kompliziert. Hirschi hat einen alten Vertrag, er erhält für eine überregionale Zeitung pro Monat 1,98 Euro, für eine Regionalzeitung 2,18 Euro, jeweils plus Nachtzuschlag von rund 40 Cent. Kollegen mit neueren Verträgen bekommen unter Umständen etwas mehr pro Zeitung, aber kein Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Bei durchschnittlicher Zustellgeschwindigkeit soll jeder auf mindestens 7,80 Euro in der Stunde kommen - theoretisch. Andernorts verdienen Zusteller noch weniger. Bei ver.di geht man davon aus, dass viele Zusteller auf einen Stundenlohn von rund fünf Euro kommen.

Um zwanzig nach vier Uhr leert sich der Platz vor dem Einkaufzentrum. Drei Straßen weiter beginnt Hirschis erste Runde. Er springt aus dem Auto und packt Zeitungen in eine große blaue Tasche. Er sprintet los. 2010 hat der durchtrainierte Mann an den Deutschen Meisterschaften im Zehn-Kilometer-Straßenlauf teilgenommen. Seit viereinhalb Jahren ist Hirschi Betriebsrat, gerade ist er wiedergewählt worden. Die Kollegen zu organisieren ist schwer. »Das Problem ist: Die Leute sind isoliert«, sagt er. Sie haben kaum Kontakt zueinander. Immerhin: 43 Prozent der mehr als 400 Beschäftigten haben an den Betriebsratswahlen teilgenommen.

Hirschi hat seine erste Station in weniger als zehn Minuten passiert. Die zweite Etappe in der Schrebergartenkolonie ist zeitaufwendiger, die Häuschen der Kunden liegen weit auseinander. Athlet Hirschi braucht fast eine Dreiviertelstunde. Wer langsamer ist, der kommt hier bei weitem nicht auf 7,80 Euro in der Stunde.

Dass Politiker oder Verleger den Mindestlohn wollen weil, Zustellen ein Zusatzjob sei, ärgert Hirschi, der Chemie und Sozialwissenschaften studiert. »Auch Zusatzjobs müssen ordentlich bezahlt werden«, sagt er. Ein Kollege macht nach dem Zustellen seine Tochter für die Schule fertig, dann beginnt sein Job als Getränkefahrer, andere sind Rentner und Frührentner. Für viele Zusteller ist das Austragen die einzige Einnahmequelle. »Wir brauchen den Mindestlohn als unterste Grenze«, sagt Hirschi.

Um kurz vor sechs hält er vor einem Hochhaus. Zweimal muss er noch die Tasche packen, dann ist er fertig. In der Wohnanlage leben fast so viele Abonnenten wie in der Schrebergartensiedlung, aber er braucht nur den Bruchteil der Zeit. Früher waren gute Bezirke nicht selten. »Wer einen hatte, versuchte, ihn an die Nachkommen zu vererben«, sagt Hirschi. Doch das gibt es in Zeiten der Zeitungskrise kaum noch.

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