Zu arm für ein Leben in Würde

Fast ein Zehntel der Italiener lebt unterhalb der Armutsgrenze – Tendenz weiter steigend

  • Anna Maldini, Rom
  • Lesedauer: 3 Min.
Der aktuelle Armutsbericht der italienischen Statistikbehörde zeichnet ein erschreckendes Bild: Sechs Millionen Menschen können Essen, Kleidung und Wohnung kaum bezahlen. Doch die Politik schweigt.

In Italien zeichnet der letzte Armutsbericht ein erschreckendes Bild: Rund sechs Millionen Menschen, das sind fast zehn Prozent der Bevölkerung, leben demnach in »absoluter Armut«. Das sind 1,2 Millionen mehr als noch im Jahr 2012. »Absolute Armut« heißt, dass die betroffenen Personen nicht genügend Geld haben, um »Güter und Dienstleistungen für ein Leben in Würde« zu kaufen. Das statistische Amt ISTAT, das die Erhebungen durchgeführt hat, hat genaue Vorstellungen davon, was das bedeutet. Eine alleinstehende, ältere Person, die in einer Kleinstadt im Süden des Landes lebt, braucht demzufolge mindestens 520 Euro monatlich für ein »Leben in Würde«; ein Paar mit einem Kleinkind muss über 1160 Euro verfügen, eine Familie mit drei oder vier Kindern über mindestens 1800 Euro.

Zu reich für die Statistik

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Zu reich für die Statistik: EZB-Studie bestätigt stärkere Vermögensschere als bisher bekannt

Vermögen ist ziemlich ungleich verteilt. Doch wie stark die Schere zwischen arm und reich auseinander geht, das ist statistisch nicht sicher zu belegen. Denn das Wissen über die Wohlstandsverteilung beruht einerseits auf Schätzungen, andererseits werden haushaltsbasierte Umfragen ausgewertet. Doch die haben das Problem der mangelnden Rückläufe, besonders unter den Reichen, die ihr Vermögen lieber kleinrechnen oder gleich verstecken. Diesem von Nichtregierungsorganisationen schon länger kritisierten Umstand hat nun ein Arbeitspapier der Europäischen Zentralbank Rechnung getragen und eine Annäherung versucht.

Der Autor und leitender EZB-Volkswirt Philip Vermeulen kommt in dem Papier zu dem Schluss, dass Reiche in den bisherigen Statistiken unterbewertet sind. Für seine Untersuchung kombiniert er deshalb die auf Erfahrungen und Schätzungen beruhende Forbes-Liste der reichsten Menschen mit Umfragen in den USA und Europa, die haushaltsbasiert sind. Untersucht wurden die USA und Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Belgien, Österreich sowie Finnland. Das Auswahlkriterium war für Vermeulen, dass Millionäre dieser Länder auch auf der Forbes-Liste aufgeführt sind.

Sein Fazit: Zieht man die Ergebnisse der Haushaltsumfragen und der Forbes-Liste zusammen, sind die Vermögen noch ungleicher verteilt als bisher angenommen. Demnach besitzt das reichste Prozent der Deutschen 32 Prozent des Vermögens statt, wie bisher angenommen, 26 Prozent. Fünf Prozent der Reichen besitzen sogar 51 Prozent des Vermögens in Deutschland.

Auch nach Berechnungen des Berliner Wirtschaftsinstituts DIW aus dem Jahr 2011 liegt der Reichtum des oberen Prozents in Deutschland bei einem Anteil von 36 Prozent. Das DIW hatte statt Forbes eine Liste im »Manager Magazin« herangezogen.
Die ungleiche Verteilung ändert sich durch die neue Berechnung auch in anderen europäischen Ländern: So besitzt das reichste Prozent der Italiener demnach 21 Prozent statt der bisher gezählten 15 Prozent des gesamten Vermögens im Land, die reichsten Niederländer zwölf statt sieben Prozent. In Frankreich versammeln sich 19 Prozent des Vermögens beim reichsten Prozent der Bevölkerung, in Belgien 17 Prozent.
In den USA liegt dieser Wert sogar bei 60 Prozent. Dort ist laut Studie die Schere zwischen Superreichen und der restlichen Bevölkerung am größten. Ein Prozent der Bevölkerung besitzt 37 Prozent des gesamten Vermögens – fünf Prozent haben 61 Prozent des Reichtums.

Organisationen wie das Tax Justice Network gehen schon länger davon aus, dass die Vermögensungleichheit stärker ist als angenommen. So schreibt das Netzwerk 2012: »Fast alle verborgenen Vermögenswerte gehören den wohlhabendsten Privatpersonen der Welt. Daraus folgt, dass Ungleichheitsstatistiken, und zwar besonders am oberen Ende der Skala, das Problem unterschätzen.« Nach aktuellen Berechnungen der Nichtregierungsorganisation Oxfam ist die Ungleichverteilung sogar deutlich stärker. Demnach verfügen die reichsten 85 Menschen weltweit über ein Vermögen von einer Billionen Britischen Pfund, was dem Vermögen der 3,5 Milliarden ärmsten Menschen entspricht. (Haidy Damm)

Das Geld soll reichen, um pro Person täglich 1700 Kalorien zu sich zu nehmen, vier Personen müssen über mindestens 56 Quadratmeter Wohnraum verfügen, zudem genügend Mittel für Strom- und Telefonrechnungen, Heizung, Kleidung, Transportmittel, Arztbesuche und Medikamente besitzen. Andernfalls spricht man von »absoluter Armut«. Betroffen sind in erster Linie Paare mit drei oder mehr Kindern, aber auch alte Menschen. Arbeitslosen geht es schlechter als Menschen mit Job. Insgesamt leben 1,43 Millionen Kinder in Armut.

Diese Statistiken bestätigen nur das, was auch die katholische Caritas im Land wiederholt unterstreicht. Die Hilfsorganisation betreut immer häufiger Familien mit mindestens zwei Kindern, aber auch junge Menschen unter 35 Jahren, die keine oder nur prekäre Arbeitsverhältnisse haben. Deshalb fordern die italienischen Bischöfe jetzt auch eine Grundsicherung für alle, damit jeder am sozialen Leben teilhaben kann.
Relativ nimmt die Armut vor allem in Mittel- und Norditalien zu. Aber am dramatischsten ist die Lage im Süden des Landes: Hier leben weniger als ein Drittel der italienischen Bevölkerung, aber die Hälfte der Armen des Landes, von denen wiederum 50 Prozent Kinder und Jugendliche sind. Der Anteil der Armen stieg im vergangenen Jahr von knapp zehn auf über 12,6 Prozent der süditalienischen Bevölkerung. Zusätzliche 26 Prozent liegen nur knapp über der Armutsgrenze.

Nach Regionen aufgeschlüsselt haben Sizilien und Kalabrien, gefolgt von Sardinien, Kampanien und Apulien die traurigen Spitzenplätze inne. Am wenigstens Armut gibt es in Südtirol, Emilia Romagna und der Toskana.
Dass die Krise vor allem die Schwächsten der Gesellschaft, also die Kinder trifft, wird auch durch eine Studie des Bauernverbandes Coldiretti belegt. Hier geht man davon aus, dass im letzten Jahr 429 000 Kinder unter fünf Jahren beziehungsweise ihre Eltern auf Unterstützung durch den Staat oder Wohltätigkeitsverbände angewiesen waren, um Milch und Lebensmittel zu kaufen.

All diese Zahlen sind erschreckend. Aber noch erschreckender ist, dass Regierung und Politik nicht reagieren. Bisher äußerten sich nur verschiedene soziale Organisationen. So schreibt die Anti-Mafia-Bewegung Libera: »Der Armutsbericht zeigt, dass Italien nicht nur krank, sondern schwer krank ist. Krank ist die Politik, die allen Menschen ein freies und würdevolles Leben garantieren müsste.« Die Verbraucherorganisation Codacons sagt: »Die Armutszahlen machen aus Italien ein Land der Dritten Welt und sind beschämend.« Das Schlimmste sei, sagt der Vorsitzende des Verbandes, Carlo Renzi, dass »die Lage 2014 vor allem im Süden des Landes nicht besser werden wird«. Er fordert von der Regierung Maßnahmen gegen die Armut und vor allem eine stärkere Steuerbelastung für das Bevölkerungszehntel, das über die Hälfte des Reichtums verfüge. Dann könnten zehn Millionen Italiener »endlich wieder in Würde leben«.

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