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Unversehrtheit als Handicap

Weitspringer Markus Rehm ist noch die Ausnahme, doch der technische Fortschritt wirft Grundsatzfragen im Sport auf

  • Oliver Händler
  • Lesedauer: 4 Min.
Wer ist eigentlich gehandicapt? Und was bedeutet Fair Play heute noch? Fragen, die sich der Sport im Zuge der Inklusion stellen muss.

In den Fall um Weitspringer Markus Rehm kehrt langsam wieder Ruhe ein, doch die trügt. Die Debatte, die in ihm steckt, werden Sport, eventuell Gerichte und die Gesellschaft irgendwann führen müssen. Die Gretchenfrage lautet: Wie, lieber Leistungssport, hast du’s mit der Inklusion?

Rehm sprang vor knapp einer Woche mit einer Unterschenkelprothese 8,24 Meter weit. Für einen Nichtbehinderten schon eine starke Weite, wenn auch noch gut 70 Zentimeter vom Weltrekord entfernt. Seine eigene Bestmarke für gehandicapte Athleten übertraf Rehm damit um fast 30 Zentimeter. Das Aufregendere war aber, dass kein Athlet ohne Behinderung an diesem Tag an diese Leistung heranreichte. Der Deutsche Leichtathletik-Verband nominierte Rehm trotzdem nicht für die EM. Er habe vermutlich durch die federnde Prothese einen technischen Vorteil, hieß es zur Begründung.

Davon abgesehen, wie stichhaltig diese Vermutung sein mag, im Kern geht es nicht um Vorteile, sondern um Grenzen. Das Ziehen solcher ist nicht leicht, vor allem, wenn in hoch entwickelten Demokratien wie Deutschland beim Thema Inklusion jene Grenzen eigentlich wegfallen sollen. Der Sport zieht sie. Noch! Auf Dauer wird das immer schwieriger werden.

Rehm ist ein Ausnahmetalent. Ihn mit Durchschnittsspringern zu vergleichen, war ein Fehler, der in Zukunft aber obsolet sein dürfte. Im Gegensatz zur menschlichen Evolution schreitet die technische viel schneller voran. Neue Prothesen werden immer mehr Athleten mit Behinderung an die Leistungen Nichtgehandicapter Anschluss finden lassen. Mehr als das. Die medizinische Forschung lässt gelähmte Menschen nur mittels Gedanken mechanische Gliedmaßen bewegen. Irgendwann werden Tischtennisspieler kommen, deren Hydraulik schneller und weniger fehlerhaft funktioniert als die biologischen Arme von Timo Boll oder Dimitri Owtscharow.

Doch nicht nur behinderte Menschen werden in Zukunft den Fortschritt der Technik nutzen wollen: Schärfere Linsen im Auge wären nicht nur im Alltag ein Vorteil, sondern auch für Sportschützen. Mit künstlichen Herzen würden Marathonläufer langsamer ermüden. Vieles ist vorstellbar und wird irgendwann auch umgesetzt. Doch ist der Sport, so wie er heute existiert, dann noch denk- und durchführbar? Oder geht es nur noch um die bessere Technik wie in der Formel 1 und eben nicht mehr um die besseren Nutzer derselben?

Im Behindertensport werden verschiedene Voraussetzungen längst mittels Umrechnungsfaktoren vergleichbar gemacht. Es gibt oft Streit, ob sie korrekt sind, aber eine Möglichkeit der Übernahme in den Nichtbehindertenbereich ist zumindest denkbar. Sie würde echte Inklusion fördern, doch selbst Rehm sieht darin schon wieder Nachteile. Gegenüber »nd« sagt er: »Wir hätten immer noch das Problem, dass Ausnahmeleistungen nicht geduldet werden. Nach jedem superweiten Sprung hieße es, die Prothese sei doch ein größerer Vorteil«, der dann mittels neuem Faktor wieder zunichte gemacht wird. Wie stellt man also einwandfrei fest, was die Technik bewirkt, und was doch der Mensch?

Nur eine Frage von vielen, die der Fall Rehm aufwirft. Schon als Kind lernt jeder Mensch zu akzeptieren, dass andere etwas besser können. Menschen mit Behinderungen erfahren das täglich und lernen, es nicht gleich als unfair einzustufen. Nichtbehinderten fällt das offenbar schwerer. Wäre Rehm nur 7,50 Meter weit gesprungen, hätte sich niemand aufgeregt. Warum eigentlich nicht? Warum hätte niemand angeprangert, dass Rehm mit der Prothese im Anlauf nicht dieselben Chancen hatte? Und warum tut das kein deutscher 100-Meter-Sprinter, der nicht über dieselben Hebelverhältnisse verfügt wie Wunderläufer Usain Bolt? Warum schreien alle erst nach Fairness, wenn ausgerechnet der Gehandicapte plötzlich besser ist?

Wir sind alle unvollkommen, heißt es oft. Soll meinen: Jeder sei gehandicapt. Entweder ist das eine Lüge, um Behinderte gütig zu stimmen oder Rehm muss bei der EM starten, denn Sebastian Bayer, Christian Reif und Co. wären nun eben aufgrund ihrer Unversehrtheit die Behinderten. Wenn niemand nach Chancengleichheit für die Gehandicapten mit Prothesen rief, warum jetzt für die ohne?

Im Schach traten einst Computer gegen Weltmeister an, als Software-Entwickler beweisen wollten, wie gut ihr Produkt schon sei. Seit 2006 lässt sich kein Weltmeister mehr auf einen Zweikampf mit einem Computer ein, da er gegen ihn keine Siegchancen mehr hätte. Der unter Behinderten konkurrenzlose Markus Rehm will den Nichtbehinderten zeigen, wie gut er ist. Fordert in 20, 50 oder 100 Jahren ein nichtbehinderter - oder rein biologischer - Athlet den besten Prothesenspringer heraus, um zu beweisen, dass auch ohne Technik große Weiten möglich sind?

Es ist fraglich, wie lange das Prinzip der Fairness noch aufrechterhalten werden kann? Es ist ohnehin ein Feigenblatt, das den modernen Sport längst nicht mehr hinreichend bedeckt: Rennrodler gewinnen auf ihren Hausbahnen, da sie diese viel besser kennen. Ein Olympiasieg hängt oft mehr vom Austragungsort als vom sportlichen Können ab. Deutsche Fußballer haben - finanziell wie technologisch - viel bessere Entwicklungsbedingungen als Kollegen in Island oder Belize. Gleiche Voraussetzungen zum Erreichen eines WM-Titels herrschen auch hier nicht, doch niemand regt sich darüber auf. Fairness heißt nur, den Ball ins Aus zu schlagen, wenn ein Gegner ärztliche Hilfe benötigt. Aber wenn ein unterschenkelamputierter Spieler plötzlich mit Prothese härter schießen könnte, darf er nicht mitspielen. Das wäre ja unfair.

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