»Feuerwerk« in Kiew wie in Donezk

Die riesige Kluft, die sich in der Ukraine auftut, zieht sich auch durch Familien

  • Bernhard Clasen, Kiew
  • Lesedauer: 4 Min.
Gespräche in der Ukraine dieser Tage offenbaren, dass ein Riss durch das Land geht, der selbst Eltern und Kinder einander entfremdet.

»Ihr habt vergangene Nacht in Kiew ein Feuerwerk gehabt? Schön für euch. Es ist immer gut, wenn man am Wochenende etwas geboten bekommt. Sonst ist das Leben langweilig, meine liebe Tochter.«

Jeden Tag unterhalten sich Tatjana und ihre Tochter Inna per Skype. Tatjana lebt in Donezk, Tochter Inna in Kiew. Von ihrem Lohn als Ingenieurin kann Tatjana kaum leben. Schon gar nicht jetzt, wo die Fabriken der Industriestadt Donezk weitgehend stillstehen oder durch Artilleriebeschuss zerstört sind. Wenn nicht die Tochter wäre, würden Tatjana und ihr Mann Igor mit ihrem bescheidenen Gehalt kaum über die Runden kommen.

Inna ist vor zehn Jahren nach Kiew gezogen. Dort hat sie geheiratet, Karriere gemacht, kann von ihrem üppigen Gehalt als Managerin eines US-amerikanischen Computerkonzerns regelmäßig etwas an ihre Eltern überweisen. Und deswegen können die sich sogar einen Pkw leisten.

»Wir hatten auch ein Feuerwerk, meine liebe Tochter, schon die ganze Woche lang, tagsüber und nachts. Ach, ihr in Kiew habt doch überhaupt keine Vorstellung davon, wie groß die Angst hier ist vor Artillerie und Bomben.«

»Aber Mama«, wirft Inna in dem Skype-Gespräch ein. »Kein Staat der Welt würde es einfach so hinnehmen, dass eine Gruppe Terroristen mit Waffen des Nachbarstaates Regierungsgebäude besetzt, ein Schreckensregime errichtet. Sieh dir doch mal an, wie die USA, Israel, Russland oder auch Deutschland mit Terroristen umgehen. Dort wird auch nicht verhandelt. Man muss den Donbass von den Terroristen befreien, dann können wir auch wieder friedlich zusammenleben. Aber erst müssen die Störenfriede beseitigt werden.«

»Was heißt ›den Donbass von den Terroristen befreien‹? In den letzten Tagen hat eure Armee Schulen, Kindergärten, eine Krebsklinik und Wohnhäuser zerstört. Sieht so ein Kampf gegen Terroristen aus? Einige dieser sogenannten Terroristen, die getötet wurden, waren noch nicht mal im schulpflichtigen Alter.«

»Ja, aber was soll die Armee auch machen, wenn die Bewaffneten von der Volksrepublik gezielt ihre Waffen in Wohngebieten und Schulen postieren?«, wendet die Tochter ein.

»Weißt du, wie man dem Land Frieden bringen kann?«, unterbricht sie die Mutter. »Man sollte mal Kiew bombardieren, so wie eure Armee uns bombardiert. Nur eine Stunde lang. Dann würden die in Kiew endlich kapieren, was ein Krieg wirklich ist, und dann würden sie schnell handeln, wenn sie merken, dass auch ihre Haut in Gefahr ist. Ja, dein Vater und ich, wir haben hier für das Referendum zur Unabhängigkeit des Donbass gestimmt. Aber eigentlich sind wir gar nicht für eine Unabhängigkeit des Donbass. Wir wollten nur mal Kiew unsere Wut zeigen. Ehrlich gesagt, uns gefällt auch nicht, was diese Volksrepublik hier so alles macht. Doch wenn eure Armee kommt, dann wird dein Vater mit der Waffe in der Hand unser Haus verteidigen.«

Vor über zwei Jahrzehnten hatte es Igor und Tatjana mit ihren gerade schulpflichtig gewordenen Kindern von Russland und Kasachstan nach Donezk verschlagen. Wirklich angefreundet hatten sie sich nie mit der ukrainischen Sprache. Zu Hause spricht man immer russisch, und wenn es für die Arbeit wichtig ist, dann versteht man auch ukrainisch.

Auf die Kinder, die es beide in der Hauptstadt zu etwas gebracht hatten, waren die Eltern immer stolz. Dass die sich auch an den Aktionen auf dem Kiewer Maidan beteiligten, hatte ihnen nicht so sehr behagt, doch wirklich tragisch fanden sie das auch nicht. Im persönlichen Gespräch mied man lange politische Themen.

Spätestens am 9. Mai dieses Jahres war jedoch klar geworden, dass nichts mehr in der Familie so sein wird wie bisher. Tatjanas und Igors Kinder hatten zum ersten Mal ihren Eltern nicht zum Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus gratuliert.

»Es ist eine riesige Kluft, die die Politik in unsere Familie gebracht hat«, klagt Tatjana am Ende des Gesprächs. »Und weil das so ist, kann ich meine Enkelkinder schon über ein Jahr nicht berühren, mich mit ihnen nur über Skype unterhalten. Und ich wollte ihnen immer eine gute Großmutter sein.«

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