Werbung

Glückliche Fügungen

Lisa Graff: Eine turbulente Geschichte mit einer »Messerspitze voll Magie«

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Den Ort Poughkeepsie gibt es wirklich, von New York City aus soll er leicht mit dem Metro-North-Pendlerzug zu erreichen sein. Die Main Mall Row von Poughkeepsie mit Fassaden aus den 1870er Jahren ist in das Nationale Register historischer Stätten aufgenommen. Man könnte sich gut vorstellen, dass es dort auch einmal eine berühmte Manufaktur für Erdnussbutter gab, so köstlich, wie sie heute nicht mehr zu haben ist. Der junge Mason Burgess hatte das Rezept von seiner verstorbenen Mutter geerbt und im Futter seines puderblauen St. Anthony’s Koffers versteckt. Was nützte es ihm - der Koffer ging verloren. Aber da es auf der Welt nur 36 Exemplare dieses Modells gibt, hatte er Hoffnung, das für ihn so wertvolle Papier wiederzufinden.

Wird es gelingen? In diesem zauberhaften Buch von Lisa Graff kommt es immer wieder zu seltsamen Fügungen, die sich bei genauerer Betrachtung als glücklich erweisen. Mason Burgess hat extra ein »Warenhaus für verloren gegangene Gepäckstücke« gegründet, aber er hat sein einstiges Pech nicht gut verkraftet. Er ist missgünstig geworden, skrupellos anderen gegenüber, will ihnen ihre Talente stehlen. Wie soll so ein böser Mensch gute Erdnussbutter machen?

Nun weiß man ja, dass auch fiese Charaktere erfolgreich sein können - im Leben, aber nicht in der Wirklichkeit von Lisa Graffs Buch. Diese Wirklichkeit ist, siehe Poughkeepsie, nostalgisch überhaucht und märchenhaft verfremdet. Wenn es da einen seelenlosen Hochhausblock gibt, hat er wenigstens einen geheimen Innenfahrstuhl und bald auch ein Loch in der Fassade, weil ein Heißluftballon durch einen Spuckebatzen zum Absturz gebracht worden ist. Die Spucke stammt von einem Jungen namens Zane Asher, der über das Talent verfügt, immer alles falsch zu machen. Sein kleiner Bruder hat dagegen das Talent, spurlos zu verschwinden. Schwester Marigold ist noch dabei, ihr Talent zu finden, und Mutter Asher hat wenigstens das Stricken für sich entdeckt, hält sich aber insgeheim für eine Mittelmäßige.

Ist es schlimm, mittelmäßig zu sein? Die Gestalten dieses Buches sind insofern der modernen Leistungsgesellschaft verwachsen, als sie aus tiefster Seele danach streben, ganz Besondere zu werden. Darin könnte man sogar das untergründige Thema des Buches sehen: in dem Wunsch, die eigene Begabung und Bestimmung zu entdecken. Für die einen entsteht daraus Druck, für die anderen ist es reine Freude. So ist es nun mal, lächelt uns die Autorin entgegen, Fähigkeiten sind nun mal nicht gleich verteilt. Es gibt Glückskinder und Pechvögel. Aber immerhin hat sie die Möglichkeit, auch letzteren ein wenig behilflich zu sein. Und wird dabei offensichtlich unterstützt durch einen »Mann im grauen Anzug«, dessen Leidenschaft es ist, Knoten zu knüpfen. Der ist baumlang und wirkt erst einmal gar nicht so sympathisch. Denn immer, wenn er auftaucht und nebulöse Bemerkungen macht, zeigt er »ein merkwürdig seitwärts gewandtes Grinsen. Es war ein Grinsen, das vermuten ließ, dass der Grinser mehr über die Welt wusste, als er zugab.«

Einen Hauch solch geheimnisvollen Wissens hat auch Cady abbekommen, die im Mittelpunkt dieses Buches steht. Ein kleines Waisenmädchen mit dem besonderen Talent, für jeden Menschen den passenden Kuchen zu backen, die Backkunst also mit Menschenkenntnis und -liebe zu verbinden. Als Baby wurde sie im »Heim für verloren gegangene Mädchen« abgegeben. Dessen Leiterin, Miss Mallory, ist eine herzensgute Frau mit der Gabe, jedes Kind mit der perfekten Familie zusammenzuführen. Eines Tages spürt Miss Mallory wieder das charakteristische Stechen in der Brust, das so eine Zusammenführung ankündigt. Wird sie ihre Cady nun verlieren?

Unbekümmert lässt die amerikanische Autorin Lisa Graff ihre Einfälle sprudeln. Je mehr, desto besser. Verrückt? Bitte sehr! Skurrile Personen finden sich noch mehr als die hier aufgezählten. Einige haben vergessen, dass sie einander früher schon kannten. Eine turbulente Geschichte sollte es werden mit einer »Messerspitze voll Magie«, wie der Titel schon sagt. Ein Buch, das jungen Lesern Mut macht, dass irgendwie, irgendwie eine glückliche Fügung auch ihren Weg kreuzen möge. Wichtiger noch, dass auch Unangenehmes vielleicht seinen Sinn haben könnte. Denn, dies ist wohl ein Kernsatz: »Die Art, wie wir mit dem umgehen, was das Schicksal uns beschert, macht uns zu den Menschen, die wir sind.«

Lisa Graff: Eine Messerspitze voll Magie. Aus dem Amerikanischen von Alexandra Ernst. Ueberreuter. 215 S., geb., 12,95 €.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal