Sammeln, abgeben, Geld verdienen

Auf dem Altpapiermarkt tummeln sich auch viele Privatunternehmen - besonders wenn die Preise für den Rohstoff hoch sind

  • Sebastian Haak
  • Lesedauer: 8 Min.
Jahrelang war Altpapier nur Müll. Nun wird es wieder gesammelt. So wie alte Textilen. Oder ausgediente Elektronik. Wann immer sich mit solchen Stoffen Geld verdienen lässt, lockt das auch die Privatwirtschaft.
Der Wertstoffhändler Mario Schiller ist bereits seit dem Jahr 2005 im Altpapiergeschäft.
Der Wertstoffhändler Mario Schiller ist bereits seit dem Jahr 2005 im Altpapiergeschäft.

Unter den kleinen, mittelgroßen und großen Altpapierhändlern in Thüringen ist Mario Schiller eine Ausnahme. Er spricht. Und zwar auch über sich und sein Geschäft. Viele andere in seiner Branche tun das nicht, hüllen sich lieber in Schweigen. Ein mittelgroßes Unternehmen in Nordthüringen bemüht sich erst gar nicht, irgendwelche Ausreden für dieses Verhalten zu erfinden. Der Betrieb lässt mehrere Anfragen einfach völlig unbeantwortet. Eine kleine Händlerin aus Südthüringen sagt, sie rede grundsätzlich nicht über ihre Kundschaft und legt den Telefonhörer einfach auf. Aus der Verwaltung einer großen Altpapiersammelstelle in Mittelthüringen heißt es schriftlich, »aus Sicherheitsgründen« sei es unmöglich, betriebsfremden Menschen Zutritt zum Unternehmensgelände zu gewähren. In der E-Mail taucht das Wort »leider« auf. Auf die Bitte um Antworten am Telefon folgt nur noch Schweigen.

Der Rohstoff Altpapier

Schon im Jahr 1774 erfand der Göttinger Professor Justus Claproth ein Verfahren, bei dem aus bedrucktem Papier die Druckfarbe komplett herausgewaschen wurde. Auf diese Weise wird bis heute Altpapier in einen Rohstoff für die Papierindustrie umgewandelt. Und dieser verdrängt das Holz: Im vergangenen Jahr produzierte die Branche in Deutschland 22,4 Millionen Tonnen Papier, Karton und Pappe - etwa drei Viertel davon wurden aus Altpapier gewonnen. 1990 betrug der Anteil noch nicht einmal die Hälfte. Auch Ihr »nd« wird auf recyceltem Papier gedruckt.

Die Umrüstung vieler Papierfabriken, die jetzt neben Holzfasern auch Altpapier verwenden können, schont den Waldbestand. Diese Art der Herstellung ist auch besser für die Umwelt: Dennoch werden für 100 Kilogramm Recycling-Papier 2000 Liter Wasser und 400 Kilowattstunden Energie benötigt. Außerdem werden 90 Kilogramm CO2 freigesetzt. Die Papierhersteller gehören zur energieintensiven Industrie und sind weitgehend von der EEG-Umlage befreit.

Außerdem wurde der Effizienzgewinn aus dem Altpapiereinsatz durch einen starken Anstieg des Papierkonsums im Zuge der Computerisierung relativiert. Deutschland ist der viertgrößte Verbraucher weltweit nach den USA, China und Japan. Pro Tag verbraucht jeder Bundesbürger im Schnitt 640 Gramm Papier - die Papiermenge eines Harry-Potter-Bandes. KSt

 

Auf dem Betriebsgelände Schillers in Weimar kann man die potenziell tödlichen Gerätschaften begutachten, mit denen Altpapierhändler täglich zu tun haben: ein paar große Container, in denen tonnenweise Zeitungen, Kataloge, Briefe, Werbeprospekte und Schulhefte liegen; ein paar kleinere Metallboxen; ein Gabelstapler; ein Hubwagen mit integrierter Waage. Schiller ist nicht nur ein Mensch, der spricht. Er ist wohl auch ein mutiger Mann.

Längst ist aus Altpapier wieder ein Wertstoff geworden. War es zu DDR-Zeiten für viele Menschen ganz selbstverständlich, dieses Material aufzubewahren und dann zu Sammelstellen zu bringen, landete Altpapier in den 1990er Jahren oftmals entweder mit im Hausmüll oder in speziellen Behältnissen der kommunalen Entsorgungsunternehmen, die nicht weit entfernt von den Restmülltonnen aufgestellt waren. Dass Papier irgendwie werthaltig sein könnte, diese Idee schienen viele Menschen damals plötzlich vergessen zu haben; bis private Wirtschaftsunternehmen wieder erkannten, dass sich mit Altpapier Geld verdienen lässt - und sie dafür die Menschen brauchen, die Zeitungen, Kataloge, Briefe, Werbeprospekte und Schulhefte sammeln.

Schiller, der zu diesem Teil der Wirtschaft gehört, nennt sich deshalb nicht etwa »Altpapierhändler« oder »Altpapiersammler« oder »Altpapierverwerter«. »Ich bin Wertstoffhändler«, sagt er. Seine Geschichte - mehr allerdings noch die Geschichte seiner schweigenden Konkurrenten - erzählt deshalb auch davon, wie in Deutschland mit betriebswirtschaftlichen Gewinnen und Verlusten umgegangen wird.

Die Kunden Schillers sind Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft, die unter ganz unterschiedlichen Umständen ganz unterschiedliche Mengen Papier zu ihm bringen. Da sei, erzählt Schiller, zum Beispiel ein Taxifahrer aus dem Kyffhäuserkreis, der jedes Mal bei ihm vorbei komme, wenn er den Auftrag für eine Fahrt nach Weimar habe. Etwa 250 Kilogramm Altpapier bringe er jedes Mal mit. Regelmäßig kämen auch Senioren zu ihm, die in ihren Handwagen zehn bis 20 Kilogramm Zeitungen und Kataloge brächten. Und freilich, sagt er, belieferten ihn auch junge Menschen, die mit Fahrrad oder Moped sowie einem dazu gehörigen Anhänger zu ihm kämen. »50 Kilogramm bekommen Sie da locker drauf.« Für jedes Kilogramm Altpapier bekommen der Taxifahrer, die Senioren, die Studenten oder Auszubildenden von Schiller derzeit sieben Cent. Er verkauft das Papier dann für einen höheren Preis an einen Großhändler weiter. Die Höhe dieses Preises ist ein Geschäftsgeheimnis.

Manche, die ihr Altpapier zu Schiller bringen, geben sich mit solchen kleinen Mengen allerdings gar nicht ab. Während der Händler auf seinem Hof steht und davon erzählt, er nehme nicht nur Altpapier an, sondern auch Textilien und handele nebenbei noch mit Holz, rollt ein grüner Kleintransporter samt großem Anhänger hinter ihm auf die Container zu. Der Hänger, sagt Schiller noch schnell, ehe er sich umdreht und zu dem Fahrer eilt, gehöre ihm. Er habe ihn dem Mann geliehen, damit der sein Altpapier zu ihm schaffen könne. »Kundenbindung«, ruft Schiller.

Sowohl für den Unternehmer als auch für Peter Rost, den Mann am Steuer des Kleintransporters, ist das ein gutes Geschäft. Etwa ein Jahr lang, erzählt Rost, habe seine Familie alles Papierartige gesammelt. Weil er auf einem Hof in Rittersdorf wohne, sei das keine logistische Schwierigkeit - trotz der großen Menge, die zusammengekommen ist: Mehr als eine Tonne Altpapier laden Schiller und Rost innerhalb weniger Minuten vom Hänger ab, räumen sie aus dem Heck des Fahrzeugs. Vor zwei Tagen war Rost schon einmal mit einer ähnlichen Menge da. Insgesamt bringt er an beiden Tagen etwa 2,2 Tonnen Altpapier zu Schiller, der dafür etwa 150 Euro zahlt. »Mit dem Geld«, sagt Rost, »gehen wir mit den Kindern auf den Rummel. Da muss man dann nicht auf jeden Cent achten.« Vor fünf Jahren habe er wieder mit dem Altpapiersammeln angefangen. »Ich kenne das ja noch aus DDR-Zeiten.«

Es gibt noch etwas, das Schiller zu einer Ausnahme macht - jenseits der Tatsache, dass er spricht. Anders als besonders viele kleine Wertstoffhändler ist er schon relativ lange im Geschäft. Der 48-Jährige eröffnete 2005 zunächst eine Sammelstelle in Apolda, ein Jahr später seinen Standort in Weimar. Vorher arbeitete er als Angestellter in einem Unternehmen der chemischen Industrie. Der Job missfiel ihm mehr und mehr.

Und weil Schiller schon so lange im Altpapiergeschäft ist, kennt er auch die Kritik an Teilen der privaten Verwerter, wie sie zum Beispiel Beate Wachenbrunner vorbringt. Ein bisschen teilt Schiller diese Kritik sogar. Gut möglich, dass es solche Vorwürfe sind, die dazu führen, dass so viele Altpapiersammler und Entsorgungsunternehmen lieber schweigen als sprechen.

Wachenbrunner ist die Geschäftsführerin der Kreiswerke Schmalkalden-Meiningen, eines kommunalen Entsorgungsunternehmens, das in Südthüringen arbeitet. Sie sagt Dinge über das Wertstoffgeschäft, die immer wieder von Vertretern kommunaler Betriebe zu hören sind, wenn es um ihr Verhältnis zur privaten Wirtschaft geht. Anders als viele Private haben die Kommunalen keine Scheu, ihren Blick auf diesen Markt darzulegen. Und das ist das Geschäft mit altem Papier, alten Textilien, Elektroschrott, Biomüll und vielem anderen inzwischen: ein Markt.

Im Kern missfällt es Vertretern der Kommunalwirtschaft wie Wachenbrunner, dass private Unternehmen bevorzugt immer dann auf diesem Markt auftreten, wenn die Preise auf dem Weltmarkt für die dort gehandelten Stoffe weit oben sind. Grundsätzlich, sagt sie, habe sie überhaupt nichts dagegen, wenn auch private Entsorger Altpapier und ähnliches verwerteten; solange sie das - wie Schiller - langfristig und zuverlässig täten, also: als Ergänzung zur kommunalen Wirtschaft. »Leider«, sagt Wachenbrunner, »sieht die Realität anders aus.« Wenn die Preise im Keller seien, »dann sagen die Privaten: Das machen wir nicht mehr, das rechnet sich nicht. Kümmere du dich doch, lieber kommunaler Aufgabenträger.«

In der Praxis, sagt Wachenbrunner, sehe das so aus, dass bei niedrigen Weltmarktpreisen, die größeren privaten Entsorger kleine oder entlegene Regionen nicht mehr anfahren würden, in denen sie vorher regelmäßig waren, um Altpapier abzuholen - weil Aufwand und Nutzen in keinem Verhältnis mehr zueinander stünden. Oder dass kleine Sammelstellen einfach ganz zumachten - nur, um bei der nächsten Hochpreisphase wieder zu öffnen. »Das ist wie Rosinenpickerei«, sagt Wachenbrunner. Die Kommunalen dagegen müssten ihre Sammelstellen immer betreiben, ihre Autos immer auch in abgelegene Dörfer schicken. Auch dann, wenn es sich nicht rechne.

Um diese Kritik Wachenbrunners verstehen und einordnen zu können, muss man zwei Dinge wissen. Erstens: Aufgrund gesetzlicher Regelungen sind in Deutschland die Kommunen grundsätzlich dafür verantwortlich, dass Abfälle aller Art nicht einfach am Straßenrand oder vor den Haustüren ihrer Bürger liegen bleiben, sondern beseitigt werden. Anders als die Privatwirtschaft haben die Kommunen und die zu ihnen gehörenden Wirtschaftsunternehmen also keine Möglichkeit, sich zu entscheiden, ob sie Müll nun abholen oder nicht. Und immer, wenn sie nicht kostendeckend arbeiten können - zum Beispiel wegen niedriger Weltmarktpreise -, steigen bei den Bürgern die Abfallgebühren. Regelmäßig sind die Menschen dann auf ihre kommunalen Entsorger nicht gut zu sprechen.

Zweitens: Die Weltmarktpreise für Papier, Textilien, Elektroschrott und ähnliches schwanken stark. Zum einen, weil diese Stoffe zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich stark nachgefragt werden. Wenn China zum Beispiel das Altpapier der Welt aufkauft, sind die Preise oben. Wenn die Chinesen gerade kein Altpapier brauchen, fallen die Preise wieder. Zum anderen, weil selbst diese Stoffe inzwischen von Spekulanten auf den Finanzmärkten der Welt gehandelt werden. Wie Edelmetalle. Oder Nahrungsmittel.

Wie heftig diese Schwankungen ausfallen können, das haben sowohl Schiller als auch Wachenbrunner immer wieder erlebt. Schiller, weil die Weltmarkpreise Einfluss darauf haben, was er von Großhändlern für eine Tonne Altpapier bekommt und daran die Preise hängen, die er seinen Kunden zahlt. Als er 2005 in dem Geschäft angefangen habe, sagt er, hätten die Studenten, Familien und Senioren von ihm 3,5 Cent je Kilogramm Altpapier bekommen. 2010 seien es dann zehn Cent je Kilogramm gewesen, dann der Absturz auf sechs Cent. Seit 2012 liege sein Einkaufspreis konstant bei sieben Cent. Wachenbrunner kennt die Weltmarktpreise genau: Im Durchschnitt habe man auf dem Weltmarkt im Mai 2011 etwa 105 Euro je Tonne Papier bekommen, sagt sie. Heute liege der entsprechende Preis bei nicht einmal mehr 28 Euro.

Das Ergebnis dieser Schwankungen ist immer das gleiche: Aus der für die Privatwirtschaft wesentlichen, betriebswirtschaftlichen Perspektive ist Altpapier mal ein Wertstoff, mal einfach nur Müll.

Und deshalb erinnert das Geschäft mit dem Altpapier wie mit allen ähnlichen Stoffen in frappierender Weise an ein Verteilungssystem, das während der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2009/2010 zu einer großen gesellschaftlichen Debatte führte, die inzwischen freilich wieder deutlich an Schärfe verloren hat - obwohl die Krise von damals ihre Fortsetzung in der noch immer anhaltenden Euro-Schuldenkrise gefunden hat. Als Banken damals mit Steuermilliarden gerettet werden mussten, nachdem diese Institute zuvor Milliarden erwirtschaftet und an ihre Eigentümer ausgeschüttet hatten, gab es einen Aufschrei: Wirtschaftliche Gewinne, wurde damals geschimpft, würden immer privatisiert, Verluste müsse immer die Allgemeinheit tragen. In Zukunft sollte alles besser werden. Nicht nur die Finanzwirtschaft macht inzwischen wieder weiter wie eh und je.

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