Zeit läuft, Kamera auch

»Zeitzeugen TV« - eine Idee von Thomas Grimm wurde zur Institution und ist nun 25 Jahre alt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Er war dabei - aber hat er es auch erlebt? Er ist der Igel des modernen Märchens, das sich Wahrheit nennt: Er ist immer schon da; mitunter, so scheint es, sogar vor den Ereignissen, die er beleumundet. Er ist der berüchtigte, nervige, notorisch halsreckende O-Ton: Hier, meine Meinung ist sofort und jederzeit abrufbar. Er ist eine größere Plage noch als das wuselige Rudel der überall einsetzbaren Experten. Und er ist eine noch heftigere Unart als die Tastatur-Terroristen so vieler Online-Portale - diesen digitalen Wanderdünen, auf denen Durchschauens-Maniker, Ausgezehrte durch fortlaufende Entäußerung, unaufhaltsam ihre Wüste, ihre wüste Urteilsschnellkraft, durch die Welt treiben. Ja, er ist noch schlimmer: der sogenannte Zeitzeuge, ein inflationär sich abrackerndes Wesen vor Kameras und Mikrofonen - der manchmal auftritt, als sei einzig er es, der die Zeit zeugt und den Raum dazu und alles Geschehen auch. Kein Dokumentarfilm kommt ohne ihn aus, keine Tagesschau, keine Boulewahrheit.

Doch wie in vielen anderen Fällen auch hier: Ehrenrettung. Sie gehört schließlich zu den Grundtätigkeiten des bunt gefiederten Lebens - hier heißt sie »Zeitzeugen TV« und feiert in diesem Monat das 25-jährige Jubiläum. Thomas Grimm, Jahrgang 1954, studierter Philosoph, Filmredakteur, 1990 einer der Mitbegründer des Fernsehens aus Berlin (FAB), Abteilungsleiter bei DFF und ORB, längst freischaffender Filmemacher und Produzent, gründete 1989 dieses filmdokumentarische Kleinod. Er hat so 1989 das erste private Filmarchiv der DDR ins noch kurze Leben des Staates gerufen. Es entstanden seither Tausende Stunden Erinnerungsmaterial: Gespräche mit Menschen der Zeitgeschichte; wer sich das anschaut, erlebt ein großartiges zuschauendes Hinhören - im Grunde lagert das Projekt kühn und extensiv an Heiner Müllers unerfüllbarem Traum: einem Museum, in dem die Biografien aller Menschen aufbewahrt sind.

Grimms Werk ist inzwischen vielfach europäisch vernetzt und für zahlreiche filmbiografische Auftragssegmente ausgerüstet, ob nun bei Verlagen, Bildungsträgern oder Sendern. Lebensgeschichte wird durchaus in künstlerischer, ästhetischer Korrespondenz zu den Fernsehinterviews von Günter Gaus oder Alexander Kluge erforscht - freilich ist »Zeitzeugen TV« von einem ganz anderen Ruhepol bestimmt als es je für Gespräche möglich sein kann, die für bindende Fernsehkonditionen gefertigt sind. Die Filme von Grimm und seinem Team sind, und das erhält sie solitär, eine Art Bibliothek der gesprochenen Memoiren - die Zeit darin fließt, sie rennt nicht.

Interviews sind, genau genommen, eine Verlustanzeige. Was der Mensch sagt, steht oft in natürlichem Widerspruch zu dem, was er tut. Dieser Widerspruch wird vor allem da, wo sich lutherische Prinzipien tief ins zivilisatorische Verständnis eingegraben haben, ausdauernd bekämpft, heftigst verleugnet und geradezu unbarmherzig für lösbar gehalten. Der unverblümte Volksmund fand dafür einen eindeutig fordernden Satz: Raus mit der Sprache! Besagter Konflikt ist aber nicht lösbar. Unsere Sprache, wo sie eine öffentliche Funktion wahrnimmt, signalisiert mehr oder minder den nicht zu tilgenden Abstand zwischen uns selbst und dem Bild, das uns aussagt. Im Augenblick einer an ihn gestellten Frage folgt der Mensch meist einem unausgesprochenen Rechtfertigungs- und Legitimierungsdruck und tut antwortend so, als sei er ausgefüllt von einer einzigen, gültigen Meinung. Aber schon dieses Ausgefülltsein ist eine Unwahrheit. Denn es lässt weg, was dieser Meinung in diesem Moment als nicht zuträglich erscheint. In den Gesprächen von Grimm, da sie nicht wirklich auf die Uhr schauen, da ihnen das sofortig wirksame Sendungs-Bewusstsein fehlen darf, kann ausgiebig Gebrauch gemacht werden von allen Zweifeln und Einwänden, in die ein jeder Mensch hineinkäme - wäre einem nur gestattet, nach einer guten Frage weiterzudenken, statt sofort antworten zu müssen.

Teile des Archivs gehören zur DEFA-Stiftung, es gibt eine Internetplattform »zeitzeugen-tv.com - Biografien und Zeitgeschichte«. Immer wieder entstanden auch Filme, ob über das Politbüro oder Angela Merkels politische Anfänge, über Walter und Inge Jens oder die Honeckers im chilenischen Exil. Gespräche von Bahro bis Belafonte, von Christa Wolf bis Weizsäcker - ach, was sollen Namen: Das Jahrhundert kann besichtigt werden; der Widerstand spricht und der Wohlstand; der Kalte Krieg und der heiß geliebte Frieden, Ost und West, Kapitalist und Kommunist, die deutsche Teilung und die deutsche Einheit. Und alles jenseits funktionaler Zwecke. Gewöhnlich konditioniert sich der Mensch zwischen Verbergungs- und Entblößungssprache für die Gesprächssituation; die Chance, in dieser Situation des sich Aussprechens gänzlich und unverwechselbar enthalten zu sein, ist aller TV-Erfahrung nach gering - Auskunft tendiert dazu, allgemein zu sein.

Hier nicht. Hier sind Frage und Antwort: Erzählung zu zweit. Hier unterliegt nichts den Bequemlichkeiten einer Technik, die man heute Statement nennt; und die Gespräche enthüllen auch nichts, auf dass recht viel Glanz auf den investigativen Erkundiger Grimm fiele.

In der Weise, wie Grimms Projekt mit den Jahren wuchs, wie sich thematische Kreise ergaben, wie ein Name zum anderen kam und sich Bezüglichkeiten als Ergänzung oder Kontra ergaben - es hat durchaus etwas zu tun mit Teilnahme an einem großen Entwurf von Politik, ganz im emphatischen Sinne Hannah Arendts: »Der Sinn von Politik ist Freiheit.« Freiheit in solcher Perspektive ist eine Form des Miteinander-Seins, eine Wirklichkeit, die nur stattfindet, wo mehrere sich treffen. Biografien als ein medial vermitteltes, ein durch Sammlung, durch Anthologie organisiertes Miteinander-Reden Vieler.

Mögen die Gesprächsprotokolle für sich stehen, »Zeitzeugen TV« entfacht Lust, sie nebeneinander zu stellen, zu vergleichen, einzutauchen in ein Für und Wider, das sich allem Tendenztrieb landläufiger Geschichtsschreibung, ob nun links oder mittig oder rechts, konsequent verweigert. Lebens Läufe, vorm unerfassbar großen und weiten Zeithorizont, sind windungsreicher - und lehrreicher durch ihre jeweilige Unverwechselbarkeit. So arbeitet »Zeitzeugen TV« seit einem Vierteljahrhundert daran mit, dass aus den Erinnerungen vieler ein befragbares Gedächtnis wird.

Das ist Archäologie - der Zukunft wegen.

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