Vom Sozial- zum Suppenküchenstaat

Der Kölner Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge über lebenslange Entwürdigung durch Hartz IV

  • Lesedauer: 6 Min.
Aus Protest gegen die Hartz-Reformen und die Große Koalition nach der Bundestagswahl 2005 trat Christoph Butterwegge aus der SPD aus. Bis heute ist der Politikwissenschaftler, der an der Universität Köln lehrt, einer der schärfsten Kritiker des neoliberalen Sozialumbaus. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Hartz IV und die Folgen: Auf dem Weg in eine andere Republik?« (Beltz Juventa). Mit ihm sprach Grit Gernhardt.

Vor zehn Jahren trat Hartz IV in Kraft. Ihre Bilanz in einem Satz?
Hartz IV hat unsere Gesellschaft ganz wesentlich zum Schlechteren verändert.

Inwiefern?
Sie ist erheblich rauer geworden, hat sich aber auch sozial und politisch stärker gespalten - in Privilegierte, die parlamentarische Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen beeinflussen, und in Abgehängte, die kaum noch an Wahlen teilnehmen und immer weniger die gesellschaftliche Entwicklung mitbestimmen.

Hat das Gesetz die Wahrnehmung von Hilfebedürftigen in der Gesellschaft verändert?
Ja. Wohlstandschauvinismus und Sozialdarwinismus haben zugenommen. Die mediale Abwertung der Betroffenen als »Sozialschmarotzer« hat gewirkt - Transferleistungsempfänger zählen für viele Angehörige der Mittelschicht nicht mehr zur »guten Gesellschaft«. Arbeitslosenhilfeempfänger galten als Menschen, die gearbeitet und in die Sozialversicherung eingezahlt und deshalb Anspruch auf Leistungen hatten. Nach Einführung des Arbeitslosengeldes II waren es Menschen, die eine Fürsorgeleistung bekamen. Das war ein Umschalten von der Lebensstandard- auf bloße Existenzsicherung. Vorher war der Anspruch, der Sozialstaat muss mich auffangen, wenn ich länger arbeitslos bin. Heute herrscht die Auffassung, dass Betroffenen die Leistung nicht zusteht, außer sie erbringen eine Gegenleistung, etwa einen Ein-Euro-Job. Hartz IV bedeutet den Übergang vom Sozialversicherungs- zum Almosen- und Suppenküchenstaat. Betroffenen wird im Jobcenter schon mal vorgeschlagen, sie sollten zur Lebensmitteltafel gehen.

Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) sagt, die Reform habe sich gelohnt, weil es jetzt zwei Millionen Arbeitslose weniger gebe als 2005.
Ich bezweifle, dass der Rückgang der Arbeitslosigkeit auf Hartz IV zurückzuführen ist. Wenn in einem Jahr mehr Kinder geboren werden und gleichzeitig mehr Störche nisten, kann man daraus auch nicht den Schluss ziehen, dass der Klapperstorch die Kinder bringt. Frank-Jürgen Weise, der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, hat in der »Bild« gesagt, »Fördern und Fordern« sei das beste Programm, das wir je hatten. Demnach hätten wir ohne es heute 800 000 Arbeitslose mehr. Ich sage, wir haben eine Million mehr arme Kinder und Hartz IV ist daran schuld.

Im Vergleich zu anderen Ländern ist Deutschland glimpflich aus der Krise gekommen. Aber das liegt an anderen Dingen, etwa an zwei Konjunkturprogrammen, die eher neokeynesianisch und nicht neoliberal wie Hartz IV waren. Auch wurde die Höchstbezugsdauer des Kurzarbeitergeldes von sechs auf 24 Monate verlängert, es gab noch einen halbwegs intakten Kündigungsschutz und die Arbeitszeitkonten in den Betrieben trugen ebenfalls dazu bei, dass sich die Entlassungen in Grenzen hielten. Selbst wenn die Arbeitslosigkeit zum Teil durch Hartz IV gesunken wäre, war der Preis, den unser Land und speziell die sozial Benachteiligten dafür zahlen mussten, viel zu hoch.

Kann man an Hartz IV überhaupt etwas verbessern oder müsste das Gesetz abgeschafft werden?
Wenn man den Regelsatz von 391 Euro plus Heiz- und Mietkosten nicht nur auf die 399 Euro, die ab 1. Januar gelten, sondern auf 500 Euro erhöhen würde, wäre das eine spürbare Verbesserung. Dasselbe gilt für ein Sanktionsmoratorium, denn drakonische Strafandrohungen machen den Menschen Angst. Aber eigentlich ist eine Rückabwicklung nötig. Es muss wieder eine lebensstandardsichernde Lohnersatzleistung eingeführt werden. Mit Hartz IV wurde nicht nur der Sozialstaat demontiert, sondern auch die Leistungsgerechtigkeit mit Füßen getreten. Jetzt fällt der Diplomingenieur, der jahrelang gearbeitet hat und früher mit der Arbeitslosenhilfe auf Grundlage seines Nettogehalts relativ gut gestellt wurde, nach kurzer Zeit auf Fürsorgeniveau. Das ALG II müsste ehrlicher Sozialhilfe II heißen. Es hat dieselbe Höhe wie die Sozialhilfe und wird auch an Menschen gezahlt, die nicht arbeitslos sind: Die Arbeitgeber von ca. 1,3 Millionen Geringverdienern erhalten eine Subvention dafür, dass sie Niedriglöhne zahlen.

Ab 2015 gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn. Ist damit das Thema Aufstocker erledigt?
Das wäre nur der Fall, wenn erstens der Mindestlohn eine ausreichende Höhe hätte. Die Niedriglohnschwelle liegt aber bei 9,30 Euro und der Mindestlohn bei 8,50 Euro. Zweitens kommt der Mindestlohn sehr spät, nämlich für alle erst 2017. Die Bundesrepublik wird dann - abgesehen vom neoliberalen Musterland Großbritannien - das westeuropäische Land mit dem niedrigsten Mindestlohn sein. Und drittens ist er nicht flächendeckend. Jugendliche ohne Berufsausbildung fallen raus, mit der Begründung, dass sie eine Hilfsarbeitertätigkeit mit einem Mindestlohn ausüben würden, statt eine Ausbildung zu machen. Ich sehe es umgekehrt: Sie werden erst dadurch, dass man sie ausnimmt, interessant für Unternehmer, weil man sie für Billiglöhne einstellen kann.

Langzeitarbeitslose werden für ein halbes Jahr ausgenommen. Damit kann man sie einstellen und nach sechs Monaten für den Nächsten vor die Tür setzen. Ein weiteres Problem: Da Tarifverträge nicht vorsehen, dass Langzeitarbeitslose zu Sonderkonditionen beschäftigt werden, sind tariflich gebundene Unternehmer gezwungen, Langzeitarbeitslosen den gleichen Lohn zu zahlen. Nur jene Firmen, die nicht an Tarifverträge gebunden sind, können im ersten halben Jahr unter 8,50 Euro pro Stunde bleiben. Statt die Tarifautonomie zu stärken, wie das Gesetz in seinem Namen verspricht, werden also Unternehmer bessergestellt, die gar nicht tarifgebunden sind.

Zudem ist Hartz IV nicht nur ein Problem während des Erwerbslebens ist, sondern auch danach.
Hartz IV bleibt auch ein Problem nach dem Ende des Erwerbslebens, weil der Mindestlohn nicht ausreicht, um Altersarmut zu verhindern. Besonders Großstädter mit Kindern gelangen über den Mindestlohn selbst bei einer Vollzeitbeschäftigung weder aus Hartz IV heraus, noch erreichen sie eine auskömmliche Rente. Der ehemalige Aufstocker muss im Alter zum Grundsicherungsamt, wie er während seiner Berufstätigkeit zum Jobcenter musste. Das bedeutet lebenslange Entwürdigung und Hartz IV bis zum Tod. Oft noch darüber hinaus - ein Zehntel aller Begräbnisse sind heute Sozialbestattungen.

Eine Idee der Reformen war, dass die Arbeitsämter nun Jobcenter genannt werden und die Leistungsbezieher Kunden. Dennoch sprechen Sie von Entwürdigung?
Ja, denn die Betroffenen werden damit verhöhnt. Ein Kunde kommt mit Geld in den Laden, um etwas zu kaufen. Ein Langzeitarbeitsloser kommt aber gerade ins Jobcenter, weil er kein Geld hat. Man nennt die Betroffenen zynisch »Kunden«, um darüber hinwegzutäuschen, dass ihnen die Fallmanager eben nicht auf Augenhöhe begegnen. Dies zeigen der Zwang zum Abschluss der Eingliederungsvereinbarung und die Tatsache, dass bei kleinsten Versäumnissen mit Sanktionen gedroht wird.

Hartz IV wurde von einem SPD-Kanzler beschlossen. Ist die Entscheidung mitverantwortlich dafür, dass die SPD von der Volks- zur 20-Prozent-Partei geworden ist?
Ohne von Hartz IV und der Agenda 2010 abzurücken, wird die SPD nie wieder zu einer Volkspartei. Dass die Sozialdemokraten heute nicht mehr in die Nähe der 45 Prozent kommen, die sie bei der Bundestagswahl 1972 erreichten, liegt an einer Regierungspolitik, die sich gegen Arbeitnehmer und Erwerbslose richtet. Unter der Leistungs- und Konkurrenzorientierung, die Hartz IV verstärkt hat, leiden viele Menschen. Dieses Gesetz der Angst hat Deutschland in eine Gesellschaft der Angst verwandelt. Das hat die SPD einen Kanzler, sechs Ministerpräsidenten, hunderttausende Mitglieder und Millionen Wähler gekostet.

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