Armut in Deutschland wächst sprunghaft

Paritätischer Wohlfahrtsverband fordert besondere Aufmerksamkeit für Rentner: »Wir haben es hier mit einem armutspolitischen Erdrutsch zu tun«

  • Lesedauer: 4 Min.

Update 13.00 Uhr: Der Präsident der Volkssolidarität, Dr. Wolfram Friedersdorff, zeigt sich angesichts der vom Wohlfahrtsverband veröffentlichten Zahlen schockiert: »Es kann nicht sein, dass wichtige Familienleistungen wie Kindergeld, Elterngeld oder Unterhaltsvorauszahlungen gerade bei den ärmsten Eltern, die auf Hartz IV angewiesen sind, vollständig auf das Einkommen angerechnet werden.«

Auch er sieht hier die Verantwortung in der Politik. Wachsende Altersarmut sei vor allem Resultat falscher politischer Weichenstellungen. »Arbeitslosigkeit, Niedriglöhne und prekäre
Beschäftigung schlagen sich zunehmend in niedrigen Rentenansprüchen nieder. Statt sich mit drei bis vier Millionen Arbeitslosen zufrieden zu geben, brauchen wir eine aktivere Arbeitsmarktpolitik.«

Armut trotz Wirtschaftswachstum

Berlin. Obwohl die Wirtschaft läuft und die Arbeitslosigkeit sinkt, wächst die Armut. Das geht aus dem aktuellen Bericht zur regionalen Armutsentwicklung hervor, den der Paritätische Wohlfahrtsverband am Donnerstag in Berlin vorgelegt hat. Danach ist die Armutsquote 2013 von 15 auf 15,5 Prozent gestiegen und hat bundesweit einen neuen Höchststand erreicht.

Der Armutsbericht macht deutlich, dass sich die steigende Armut von wirtschaftlichen Entwicklungen gänzlich abgekoppelt hat. So ist eine Armutszunahme in dem Krisenjahr 2009 nachvollziehbar, doch die wachsende Armut auch in Jahren mit deutlichen Wirtschaftswachstum, wie 2007, 2010 und 2011 sprechen für eine Loslösung von dem volkswirtschaftlichen Wohlstand und der Zahl derjenigen die nicht an diesem Aufschwung teilnehmen können.

Wie der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband dazu feststellt: »Die Probleme liegen damit nicht in der Erwirtschaftung des Volkseinkommens, sondern in der Primär- und Sekundärverteilung dieses Einkommens. Es ist ein erster statistischer Fingerzeig darauf, dass Armut und Ungleichheit in Deutschland politisch mindestens mit verursacht sind.«

Das selbe Phänomen ist bei den Arbeitslosenzahlen zu beobachten. Während die Arbeitslosenquote von 2006 bis 2013 kontinuierlich um 36,1 Prozent (von 10,8% auf 6,9%) gesunken ist, stieg die Armutsquote um 10,7 Prozent in dem gleichen Zeitraum. Diese Zahlen und eine stagnierende Arbeitslosengeld II-Quote weisen darauf hin, dass immer Menschen im Billiglohnsektor arbeiten müssen. Zum zweiten weist es, laut dem Wohlfahrtsverband, auf eine Konzentrierung des Jobcenters auf leicht vermittelbare Arbeitssuchende hin und eine zu geringe Verantwortungsübernahme für Langzeitarbeitslose.

Alleinerziehende und Rentner häufig von Armut bedroht

»Noch nie war die Armut in Deutschland so hoch und noch nie war die regionale Zerrissenheit so tief wie heute. Deutschland ist armutspolitisch eine tief zerklüftete Republik«, so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes. Das höchste Armutsrisiko von allen Haushalten zeigten danach mit 43 Prozent Alleinerziehende. Besondere Aufmerksamkeit sollte zudem nach Ansicht des Verbandes den Rentnerinnen und Rentnern gewidmet werden: »Es gibt keine andere Gruppe in Deutschland, die in den letzten Jahren auch nur annähernd vergleichbar hohe Armutszuwächse hatte. Wir haben es hier mit einem armutspolitischen Erdrutsch zu tun«, warnt Schneider angesichts eines Anstiegs der Armut in dieser Gruppe um 48 Prozent seit 2006.

Große Unterschiede zwischen einzelnen Regionen

Außer in Sachsen-Anhalt und Brandenburg hat die Armut den Angaben zufolge in diesem Zeitraum in allen Bundesländern zugenommen, am stärksten in Hamburg, Bremen und im Saarland. Die Schere zwischen armen und wohlhabenden Bundesländern hat sich weiter geöffnet. Am oberen Ende befinden sich Bayern und Baden-Württemberg mit Armutsquoten von 11,3 und 11,4 Prozent. Am unteren Ende rangieren Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin mit Armutsquoten deutlich über 20 Prozent. In der baden-württembergischen Region Bodensee-Oberschwaben muss jeder Dreizehnte zu den Armen gerechnet werden, in Bremerhaven jeder Dritte. Der Bericht spricht von einer »zerklüfteten Republik«.

Mit Blick auf einen längeren Zeitraum stehen Berlin und Nordrhein-Westfalen besonders schlecht da. In beiden Ländern sind die Quoten seit 2006 kontinuierlich gestiegen: Die Armut ist in diesem Zeitraum doppelt so stark gewachsen wie im Rest der Republik. Neben dem Ruhrgebiet könnte sich der Studie zufolge der Großraum Köln/Düsseldorf zu einer neuen Problemregion entwickeln.

Wege aus dem Dilmma

Der Verband fordert ein umfassendes Maßnahmenbündel zur Armutsbekämpfung. Neben einer deutlichen Erhöhung der Regelsätze in Hartz IV seien insbesondere Reformen des Familienlastenausgleichs und der Altersgrundsicherung erforderlich, um Armut wirksam vorzubeugen. Voraussetzung dazu sei ein rigoroser steuerpolitischer Kurswechsel, der große Vermögen und Einkommen stärker als bisher zur Finanzierung des Sozialstaats heranzieht, so der Verband.

Zur Berechnung der Armutsquoten werden Personen in Haushalten gezählt, deren Einkünfte weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens betragen. Diese EU-weite Berechnungsform gibt die relative Armut an. 2013 lag die so errechnete Armutsschwelle für einen Singlehaushalt in Deutschland bei 892 Euro im Monat und für zwei Erwachsene mit zwei Kindern bei 1.873 Euro. Der Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands erscheint regelmäßig und umfasst inzwischen den Zeitraum von 2006 bis 2013. epd/nd

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal